Die erträgliche Leichtigkeit des Rentner-Seins

Alt zu werden ist in unserer Gesellschaft nicht unbedingt mit positiven Erwartungen verbunden. Renten-Angst, Pflegenotstand, Altersarmut: keine schönen Aussichten. Nur einer hält dagegen: Bremens Alt-Bürgermeister Henning Scherf, Deutschlands berühmtester WG-Bewohner.

Trier. Das Bedürfnis nach guten Botschaften in Sachen Alter scheint groß zu sein. 120 Zuschauer drängen sich am Freitagmorgen im Konferenzsaal der Katholischen Akademie, um im Rahmen eines Caritas-Studientages dem Mann zu lauschen, der mit seinem Credo "Das Beste kommt erst im Rentenalter" seit ein paar Jahren den Büchermarkt und die Talkshows aufmischt.
Dr. jur. Henning Scherf, drei Kinder, acht Enkel, in seiner Heimatstadt Bremen als Ikone verehrt, sozialdemokratischer Politiker, Autor des Buches "Grau ist bunt". Ein baumlanger Mann mit einem faszinierend offenen Gesicht, ausgestattet mit der sympathischen Fähigkeit, seine Basketballer-Größe der Augenhöhe seiner Gesprächspartner anzupassen. Ein bisschen hat sein Auftritt was von einem Prediger in einer Harlemer Kirche, wenn er im Auf- und Ablaufen seine Weltsicht ausbreitet - und seine Augen dabei mit der Sonne, die von der Mariensäule herüberscheint, um die Wette strahlen. Aber der 73-Jährige wirkt nicht aufgesetzt, sondern höchst authentisch. Es scheint, als ob seine Vorstellungen zum Älterwerden durch sein Alltagsleben beglaubigt werden. Das macht seine Wirkung aus.
Scherf versteht sich - und das sagt er auch - als Gegenpol zu den pessimistischen Prognosen eines Frank Schirrmacher ("Das Methusalem-Komplott"). Dessen Prognose eines "Krieges der Generationen" hält Scherf für das Angst-Szenario eines Schreibstubenhockers, der mit dem normalen Leben wenig zu tun hat.
Das normale Leben ist für Henning Scherf eine Hausgemeinschaft in der Bremer Innenstadt, wo Familien, Paare und Einzelpersonen altersgemischt zusammenleben. Man steht füreinander ein, hat gemeinsame Bereiche, engagiert sich ehrenamtlich in der Gesellschaft, übernimmt bei kranken oder sterbenden Mitgliedern der Gemeinschaft die Pflege.
Alles beruht auf Freiwilligkeit


Mit der klassischen Sozialpolitik hat der einstige Politiker offenbar nicht mehr viel am Hut. Die produziere zu viel Bürokratie, "und Bürokratie frisst uns auf". Aus dem sozialdemokratischen Traum von einem Staat, der die Ansprüche aller Bürger erfüllt, ist bei Scherf ein Modell geworden, das gar nicht weit entfernt liegt von der "Bürgergesellschaft" wie sie die CDU sie propagiert.
Eine "behutsame Aktivierung" der Bürger schwebt ihm vor, um über ehrenamtliches Engagement wechselseitig jene Hilfe zu organisieren, die der Sozialstaat nicht mehr finanzieren kann. Im Hause Scherf scheint das toll zu funktionieren. Alles beruht auf Freiwilligkeit, bei den gemeinsamen Einkäufen ist jeder mal dran ("Dann braucht man nicht abzurechnen"), ein Auto reicht für alle ("anfangs waren es sieben"). Externes Pflegepersonal kommt nicht infrage, die WG-Bewohner wechseln sich ab, und wenn es eng wird, springen die erwachsenen Kinder eben ein. Die Generationen vertragen sich, Neuzugänge in der Hausgemeinschaft werden so lange ausdiskutiert, bis man sich einig ist.
Offensichtlich sammeln sich um den Sympathieträger Scherf alle gutwilligen Menschen der Welt. Und sein Optimismus, seine Ausstrahlung tun gut in Zeiten, da man vor der Zukunft Angst kriegen könnte. Aber im Laufe des Vortrags beschleicht einen zunehmend das Gefühl, sein Verfahrensvorschlag für die Gesellschaft entspreche in etwa der Logik von Kurt Tucholsky, der einst schrieb, die soziale Frage ließe sich am einfachsten lösen, wenn alle reich heiraten.
Was ist mit denen, die kein rundum geglücktes, gut strukturiertes, erfolgreiches Leben hinter sich haben? Mit denen, die sich um die Finanzierung elementarer Bedürfnisse Sorgen machen müssen? Die keinen kommunikativen Freundeskreis haben, nicht von ihren Kindern umsorgt werden? Die den Umgang mit ihrer Krankheit und Pflegebedürftigkeit nicht ihrem persönlichen Umfeld zumuten wollen oder können? Also den meisten. Sie werden mit dem "Modell Scherf" womöglich nicht viel anfangen können.
Trotzdem muss man froh sein mit dem Hoffnungsträger und Mutmacher Scherf. Und hoffen, dass er recht behält, und nicht Schirrmacher. Aber drauf verlassen sollte man sich nicht.Henning Scherf, Jahrgang 1938, war von 1995 bis 2005 Bürgermeister und Präsident des Senats der Freien Hansestadt Bremen. Nach seinem Abschied aus dem Regierungsamt veröffentlichte er ein viel beachtetes Buch, in dem er für einen veränderten Umgang der Gesellschaft mit alten Menschen wirbt. Scherf lebt mit seiner Frau Luise in einer Hausgemeinschaft in der Bremer Innenstadt. Quelle: wikipedia

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