Die Furcht vor Paragrafen-Reitern

MAINZ. Die angekündigte große Justizreform erhält bei der nächsten Justizministerkonferenz im Juni wohl eine Beerdigung erster Klasse. Eine Reduzierung des Instanzenweges wird es nicht geben. Dies sei kein Verlust, sagt der Mainzer Justizminister Herbert Mertin (FDP) im Gespräch mit dem TV.

Im November 2004 haben die Justizminister eine große Justizreform beschlossen. Doch beim großen Sprung nach vorn scheint der Tiger zum Bettvorleger zu werden!Mertin: Diese Einschätzung, die ich damals bereits geäußert hatte, scheint sich durchzusetzen. Vielleicht hat man auch nur erkannt, dass vieles, was man sich vorgenommen hat, in der Praxis bereits vorhanden ist. Die umstrittene Einsparung einer Berufungsinstanz ist vom Tisch?Mertin: Endgültig vom Tisch ist sie erst, wenn die Justizministerkonferenz entsprechend beschließt. Aber wir müssen natürlich feststellen, dass bereits heute im Zivilrecht nur 0,2 Prozent der Fälle zu einer Revisionsinstanz kommen. Faktisch laufen also die meisten Fälle allenfalls durch zwei Instanzen. Beim Amtsgericht werden sogar 95 Prozent aller Fälle in der ersten Instanz erledigt. Einen überbordenden Rechtsmittelstaat gibt es gar nicht. Aber die griffige Parole von "Eine Entscheidung - eine Überprüfung" hat dann als Vorbild ausgedient?Mertin: Ich würde es sehr begrüßen, wenn das kein Thema mehr wäre. Der Wegfall einer Berufungsinstanz hätte nur eine zunehmende Paragrafen-Reiterei zur Folge, statt sich um die Sache zu streiten. Wenn es keine Berufung im herkömmlichen Sinne mit Beweiserhebung mehr gäbe, würde in der ersten Instanz auf Biegen und Brechen gekämpft. Anwälte müssten Verfahrensfehler provozieren, um überhaupt noch Revision einlegen zu können. Dies würde gerade bei Amtsgerichten zu erheblich umfangreicheren und schwierigeren Verfahren führen als bisher. Die Reform wäre aus ihrer Sicht also kontraproduktiv?Mertin: Ja. Außerdem würde eine Selbstkontrolle der Gerichte wegfallen - und die gehört in Deutschland zur Rechtskultur. Jeder Richter, der entscheidet, muss wissen, dass es eine effektive Kontrolle durch andere Richter geben kann. Das ist nicht zuletzt für alle Beteiligten notwendig, damit Urteile eine befriedende Funktion in der Gesellschaft haben. Das heißt, die Reform wird auch nicht in die Strukturen der Instanzen eingreifen? Es bleibt also auch bei kleinen Amtsgerichten wie Hermeskeil, Saarburg oder Bernkastel-Kues?Mertin: Die hier angedachte Reform hatte im Gegensatz zu früheren Überlegungen nie zum Ziel, die zwei Eingangsinstanzen Amts- und Landgericht zusammenzuführen. Es ging nur um die Überlegung, ob im Bereich der Rechtsmittel, also von Berufungs- und Revisionsinstanz, etwas zu machen sei. Wenn sie also gekommen wäre, hätte es keinen Druck auf Standorte gegeben. Immer wieder gibt es Klagen über zu lange Gerichtsverfahren. Bringt die Reform denn in diesem Bereich überhaupt noch etwas?Mertin: Die Reform hätte einen Beschleunigungseffekt, wenn eine Rechtsmittelinstanz völlig gekappt würde. Dies würde aber die Rechte der Bürger einschränken und die Verfahren in der ersten Instanz verlängern. Im Übrigen ist es meist so, dass die lange Verfahrensdauer ganz andere Gründe hat, die außerhalb der Gerichte liegen, von Ausfällen durch Krankheit bei Beteiligten angefangen bis hin zu zeitaufwändigen Gutachten. An den Amtsgerichten liegt die Verfahrensdauer bei durchschnittlich vier Monaten. Was ist denn am Ende überhaupt noch konkret von der großen Justizreform zu erwarten, wenn die Ministerkonferenz im Juni erneut zusammenkommt?Mertin: Das wüsste ich selber gerne - zumindest, was den Instanzenweg angeht. Das ist im Moment schwer abzuschätzen. Es bleibt ein Ziel, die Verfahrensordnungen zu vereinheitlichen. Daneben wünschen die Gerichtsvollzieher, in eine Art Selbstständigkeit entlassen zu werden. Das ist allerdings rechtlich sehr kompliziert, weil bei der Pfändung hoheitlicher Zwang ausgeübt wird, der bislang nur Beamten vorbehalten ist. Steht noch eine Zusammenlegung von Fachgerichten wie Verwaltungs- und Sozialgerichten zur Debatte?Mertin: Es hat entsprechende Initiativen gegeben. Aber es ist zur Zeit nicht absehbar, dass es im Bundestag dafür die erforderliche Mehrheit gibt. S Die Fragen stellte unser Redakteur Joachim Winkler.

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