Die Ohrfeige

Helmut Körlings aus Traben-Trarbach, geboren 1934, erinnert sich.

Würde mich jemand fragen, ob ich mich an jenen Tag vor etwa 70 Jahren erinnern kann, an dem in Berlin die deutsche Kapitulation unterzeichnet wurde, würde ich das lebhaft bejahen. (In meiner Heimat, der Nordeifel, hatte ja der Krieg schon Monate vorher geendet.) An diesem Tag - ich war damals knapp 12 Jahre alt - fing ich mir nämlich die einzige Ohrfeige ein, die ich je von meinem Vater erhalten hatte. Und das kam so:

An diesem Maitag vor Christi Himmelfahrt, war ich mit ihm in jenem Waldstück am Rand des Hürtgenwaldes unterwegs, das jahrelang sein Jagdrevier gewesen war und wo er mal wieder nach Sau, Reh und Fuchs sehen wollte. In dieser Gegend war im Winter 1944/45 eine der blutigsten Schlachten des Zweiten Weltkriegs geschlagen worden. Abseits der Wege war es sehr gefährlich - wegen vieler noch unentdeckter Minenfelder. An den Wegrändern mahnten die Birkenkreuze der gefallenen Soldaten.

Unter einem Haselstrauch entdeckte ich ein Paar Knobelbecher, Militärstiefel, in denen bleiche Knochen staken. Als mein Vater das Laub beiseite räumten, kam das Skelett eines deutschen Soldaten zum Vorschein. Unter dem Helm, der den kahlen Schädel noch immer schützte, lugten blonde Strähnen hervor. Mein Vater musterte die Rangabzeichen auf der zerfetzten Uniform und konstatierte: "Ein Oberleutnant der 46er Pioniere. Die Einheit hat hier gekämpft." Mein Blick saugte sich an der Pistolentasche mit der Waffe fest, eine 08, wie ich "fachkundig" feststellte. Was Waffen betraf, kannten wir Jungen uns aus, denn die lagen in allen Straßengräben, Teichen und Bachläufen herum. Mein alter Herr winkte: "Gehen wir! Ich schaue bei der Kommandantur vorbei". Ich wusste: Es war Vorschrift, dass jeder Fund eines Kriegstoten gemeldet werden musste. Zu Hause schwang sich mein Vater auf seinen vollgummibereiften Drahtesel und fuhr zur provisorischen Polizeiwache. Der Diensthabende war ein alter Kriegskamerad von ihm aus den Tagen von Verdun, und so war klar, dass er vor ein, zwei Stunden nicht zurück sein würde. Diese Zeit gedachte ich zu nutzen.

Am Abendbrottisch sagte mein Vater beiläufig: "Um 9 Uhr morgen kommt eine Kommission. Wir sollen beide mit." Mir war nicht recht wohl in meiner Haut..!

Pünktlich um 9 hielt ein Jeep vor unserem Haus. Der Offizier neben dem Fahrer grüßte lässig. Mein Vater schob sich auf die Rückbank neben seinen Polizeikumpel, ich zwängte mich in den Fußraum des Fond. Am Ziel angelangt, untersuchte der Captain die Reste der Uniform und fingerte ein Soldbuch aus der zerfledderten Brieftasche.Vorsichtig blätterte er darin und nannte Namen, Geburtsdatum, Heimatort und Rang - in tadellosem Deutsch! Er brach die Erkennungsmarke, die der Tote trug, wickelte alles in Papier und verstaute die Dinge in seiner Mappe. Mein Vater musterte derweilen Koppel und Pistolentasche. Ich sah, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. "Hast Du gestern nicht auch gesehen, dass da im Halfter eine Waffe war?" fragte er mich. Mir wurde heiß. Ich hörte mich stottern: "Ja, kann sein, weiß ich nicht so genau". Mein Vater fixierte mich und ich merkte, wie mir das Blut in den Kopf schoß. - "Wo ist die Pistole?" fragte er, betont leise und freundlich. - " Ich ....ich hab' keine Ahnung", stammelte ich. Seine schwere Bergmannshand, die ich überhaupt nicht kommen sah, landete präzise auf meiner rechten Backe - meine Überraschung war größer als der Schmerz. "Wo ist sie?" insistierte er. Der Amerikaner blickte auf. Schamrot im Gesicht machte ich mich davon, um die Waffe aus dem Fuchsbau, einen Steinwurf entfernt, zu holen, wo ich sie deponiert hatte. Mein Vater nahm sie mir aus der Hand und reichte sie dem Captain. Aus den Augenwinkeln sah ich das amüsierte Lächeln, als der die Pistole in Empfang nahm. Er nickte "Well done!". - Der Polizist ergänzte: "Die Leute vom Friedhofsamt dürften gleich hier sein. Er bekommt ein Grab auf dem Ehrenfriedhof."

Die Fahrt zurück verlief ebenso schweigsam wie die Hinfahrt. Vor unserem Haus verabschiedete sich der Amerikaner von meinem Vater mit einem freundlichen "Many thanks", holte eine Tafel "Cadbury" aus seiner Mappe und strich mir mit einem aufmunternden Lächeln über den Kopf. Ich verschwand eilig auf mein Zimmer. Abends, als ich mich dazu durchgerungen hatte, bei meinem Vater um gut Wetter zu bitten, fand ich ihn im Wohnzimmer vor dem Radio. Aus dem Lautsprecher drang die blecherne Stimme irgendeines Ansagers. Ich schöpfte Hoffnung. "Fußball?" fragte ich - dieses Thema hätte uns gut wieder zusammenbringen können. Er winkte ab: " Der Krieg ist aus, Deutschland hat kapituliert." Der alte Patriot klang müde - und erleichtert zugleich! Nachdem das Krächzen aus dem schwarzen Kasten verstummt war, drehte er sich zu mir um. "Junge", sagte er, mit einem Ernst in der Stimme, den ich an ihm gar nicht kannte, " das heute morgen hat mir mehr weh getan als Dir! Aber was Du da gemacht hast, war" - er stockte kurz - "das war Leichenfledderei, und das ist ganz schlimm! Da sah ich rot." Er sah mich an: "Vergessen wir's"
Ich habe es nie vergessen!

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