Parteien „Einige reden sich die Welt schön“

Mainz/Trier · Dietmar Muscheid warnt die Landes-SPD vor aussterbenden Ortsvereinen und einer bröselnden Basis in Kommunen. Aus Berlin erwartet er noch mehr Reformen für den Sozialstaat.

 Er warnt die Landes-SPD vor Selbstzufriedenheit: Dietmar Muscheid, Landeschef des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

Er warnt die Landes-SPD vor Selbstzufriedenheit: Dietmar Muscheid, Landeschef des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

Foto: picture alliance / Thomas Frey/d/Thomas Frey

Die Genossen in Rheinland-Pfalz frohlocken häufig darüber, dass die SPD in Umfragen über dem Bundesschnitt liegt,  und bezeichnen den Landesverband als Vorbild. Dietmar Muscheid, Landeschef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), äußert sich da kritischer. Er warnt die Landes-SPD in einem Gespräch mit unserer Zeitung vor zu großer Selbstzufriedenheit. „Ich bin gespannt, ob je nach Ausgang der Kommunalwahlen sozialdemokratische Spitzenfunktionäre noch weiter den Eindruck erwecken wollen, die bundespolitischen Probleme gingen an der Landes-SPD vorbei. Einige reden sich die Welt leider immer noch schön“, sagt Muscheid.

  Der DGB-Landeschef berichtet: „Wenn ich zu SPD-Veranstaltungen fahre, warnen viele Genossen, dass Ortsvereine aussterben, weil viele der aktiven Mitglieder älter als 60 sind. Auch die kommunale Basis zerbröselt immer mehr.“ So habe die SPD die meisten Landratswahlen verloren und Erfolge nur bei Oberbürgermeister-Wahlen in den Städten gefeiert. Mit Blick auf  2021, wenn das Land wählt, meint Muscheid: „Wenn der Bundestrend so anhält, ist Malu Dreyer bei der Landtagswahl 2021 die Überlebensversicherung der SPD“. Der 62-Jährige war vor Jahren schon mal als Sozial- und Gesundheitsminister von Rheinland-Pfalz im Gespräch.

Weitere Reformen erhofft sich der DGB-Landeschef im Bund, wo die SPD zuletzt mit ihrer Sozialstaatsreform vorpreschte, die unter anderem ein Bürgergeld statt Hartz IV, einen höheren Mindestlohn und eine Grundrente für Geringverdiener vorsieht.  „Das ist ein lange, lange überfälliger Schritt, dem noch viele folgen müssen“, meint Muscheid. „Die SPD muss sich mit all dem selbstkritisch auseinandersetzen, was sie an Fehlern in Regierungsverantwortung gemacht hat, sich zu den Fehlern bekennen und glaubwürdig vermitteln, daraus gelernt zu haben.“

Als Klassiker nennt er die Agenda 2010 unter Ex-Kanzler Gerhard Schröder. Der Ausverkauf der Seele habe aber schon damit begonnen, bei der gesetzlichen Rente das Niveau zu senken und die private Vorsorge auf den Weg zu bringen, meint Muscheid. „Auf Riester zu setzen, war katastrophal“, sagt der 62-Jährige.  Bei der Rente erhofft sich der Rheinland-Pfälzer einschneidendere Reformen. „Da muss man sagen: Leute, das mit der privaten Vorsorge hat nicht funktioniert, wir müssen die staatliche Rente ausbauen und dürfen nicht Milliarden in ein System stecken, von dem Banken und Versicherungen, aber nicht die Menschen profitieren“, tadelt der DGB-Mann.

Die von SPD-Minister Hubertus Heil vorgeschlagene Grundrente sei notwendig. Es sei falsch, wenn Politker die Bedürftigkeitsprüfung ins Spiel brächten. „Wer 35 Jahre sozialversicherungspflichtig beschäftigt war, muss einen Anspruch haben, die paar Euro mehr an Grundrente zu kriegen – und wenn es der berühmte Einzelfall der Zahnarzt-Gattin ist“, findet Muscheid. Er kontert Kritiker, die angesichts von niedrigen Arbeitslosenzahlen und hohen Wirtschaftsüberschüssen keinen Bedarf für eine Sozialreform sehen. „Mein Schlüsselerlebnis war ein Besuch bei einem großen Unternehmen in Rheinland-Pfalz, das seine Leute tariflich sehr gut bezahlt und rundum absichert“, sagt er. „Viele sprechen angesichts des anstehenden digitalen Wandels ganz offen über ihre Angst vor Arbeitsplatzverlust und den Spielregeln von Hartz IV, wo die Zumutbarkeitsregeln dermaßen runtergeschraubt wurden, dass man nicht ,Nein‘ sagen darf, wenn die Agentur für Arbeit einen Job anbietet“, kritisiert er. Politik müsse den Ängsten gegensteuern, insbesondere die SPD.  Über die Genossen sagt er: „Die SPD hat noch einen Schuss frei. Sie muss für die Themen stehen, die Menschen früher von der Partei gewohnt waren und für die sie wieder einstehen muss: gute Arbeit, kostenfreie Bildung, Rente, bezahlbarer Wohnraum, ein handlungsfähiger Staat.“ Der erste Schritt der Sozialstaatsreform mache ihm Hoffnung, dass weitere Schritte folgen. „Sitzt der Schuss nicht“, warnt Muscheid, „bedeutet das das Ende der SPD als Volkspartei. Dann verkommt sie zu einer Partei, die höchstens noch bei 15 Prozent landet.“

Er warnt vor Folgen für das Parteisystem. Die Grünen stünden inhaltlich für viele Menschen nicht für das, was insbesondere an Sozialreformen nötig wäre. Die CDU strebe zu einer eher deutlich wirtschaftsfreundlicheren Politik. „In der Konstellation bliebe viel, viel zu viel Platz für Populisten.“

Die Landes-SPD könnte darunter weiteren Schaden nehmen, meint der DGB-Mann. Sie brauche ihr Zugpferd Dreyer. Auch Muscheid rätselt, gegen welchen CDU-Kontrahenten die Triererin dann ins Rennen startet. „Offensichtlich stehen zwei zur Auswahl – Christian Baldauf und Julia Klöckner“, sagt Muscheid. Den Vorschlag von Klöckner, Regionalkonferenzen um die Spitzenkandidatur zu veranstalten, nahm Muscheid interessiert zur Kenntnis. „Ich habe mich gefragt, was sie mit ihrem Vorschlag von Regionalkonferenzen bezweckt. Sie hat sich damit auf jeden Fall ein Hintertürchen offen gelassen“, glaubt der Landeschef des Deutschen Gewerkschaftsbundes.

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