Ein Zwilling kommt selten allein

TRIER. Die juristische Aufarbeitung des nächtlichen Überfalls auf einen Taxifahrer vor der Diskothek "Riverside" gestaltet sich schwieriger als erwartet. Der Angeklagte bestreitet die Tat und führt einen bislang unbekannten Zwillingsbruder als Täter ins Feld.

Amtsrichter Helmut Reusch hat genug Dienstjahre auf dem Buckel, um den kuriosesten Einlassungen von Angeklagten mit angemessener Gelassenheit zu begegnen. Aber was ihm derzeit im Verfahren gegen den 31-jährigen Samir B. präsentiert wird, dürfte nicht allzu oft in Trierer Gerichtssälen zu hören sein. Dabei scheint der Sachverhalt klar: Am 1. Februar 2004 versuchte ein Mann gegen 4.30 Uhr vor dem Riverside vergeblich, trotz Ebbe im Portemonnaie von einem dort wartenden Taxifahrer nach Biewer chauffiert zu werden. Als sich der Fahrer weigerte, lockte der verhinderte Fahrgast ihn mit dem Verweis auf einen vermeintlich platten Reifen aus dem Auto, schubste ihn weg und sprang auf den Fahrersitz des laufenden Wagens. Als der Taxler ihn herausziehen wollte, schlug er ihm vor die Brust, so dass der Mann zu Boden fiel und sich eine Beule am Kopf holte. Der Unbekannte jagte davon, das Taxi wurde drei Tage später in lädiertem Zustand in Metz gefunden. Samir B. wohnt in Metz, hat einen älteren Bruder in Biewer - und sieht haargenau so aus wie der Mann auf dem Film der Überwachungskamera im Riverside. Der Türsteher, der ihn zuvor abgewiesen hatte, und der Taxifahrer haben ihn ohne zu zögern identifiziert. Klarer geht's eigentlich nicht. Aber Samir B. will es nicht gewesen sein: Da gebe es nämlich einen Zwillingsbruder namens Amine, und das sei der Übeltäter. Das klingt wie der Plot einer Sat 1- Gerichtsshow. Aber ganz so einfach ist es nicht. Immerhin kann Verteidiger Thomas Ehrmann die Abschrift einer Geburtsurkunde aus Samirs Heimatland Algerien vorlegen, in der von einem Zwilling die Rede ist. Allerdings ursprünglich wohl von einer Schwester, wie Staatsanwalt Sebastian Jakobs, offenkundig ein versierter Hobby-Graphologe, dem merkwürdigen Dokument nach akribischem Studium entnimmt. Auch die Namen der Eltern seien keineswegs identisch mit denen in den Akten. Da müssten die Behörden wohl einer Fehler gemacht haben, vermutet der Angeklagte. Den Zwillingsbruder gebe es, er habe sogar eine Freundin in Trier-West mit Namen Christine. Mehr wisse er aber nicht, schon gar nicht, wo der ominöse Bruder derzeit lebe. Ominös ist er deshalb, weil in einem früheren Strafverfahren gegen B. von neun Geschwistern die Rede war, nun sollen es zehn sein. Samir B. ist verheiratet. Vielleicht könnte ihm seine Frau ein Alibi geben. Aber die ist in Montpellier, Adresse unbekannt. Einen Moment lang sinniert Richter Reusch, der die Gabe besitzt, selbst trostlose Prozesse mit seinem Humor aufzuhellen, über eine Dienstreise ins sonnige Südfrankreich nach. Dann muss er schweren Herzens über ernsthaftere Wege nachdenken, die orientalisch anmutende Zwillings-Geschichte gerichtsfest nachzuprüfen. Derweil sitzt das Opfer am Nebenkläger-Tisch und verfolgt das Geplänkel. Helmut E., Urtrierer, nimmt die Sache recht gelassen. Ob der Angeklagte damals einen Bart getragen habe? "Dat waas eich nimmi." Wann er sich als Tatopfer wieder ins Taxi getraut habe? "Jao direkt, nach nem Unfall fährt mer jao och weider". Ein Warmduscher ist der inzwischen fast 69-Jährige sicher nicht. Aber ärgern tut er sich doch, über das geklaute Taxi und die abhanden gekommenen 300 Euro. Auch wenn der Täter die Thermosflasche und die Jacke des Fahrers samt dessen privatem Autoschlüssel im ansonsten leer geräumten Taxi hinterlassen hat. Der Riverside-Türsteher macht seine Aussage kurz und bündig. Klar sei Samir der Täter, "sonst müsste er schon ein Doppelgänger haben". Warum in diesem Moment im Gerichtssaal alle grinsen, ahnt er kaum - er kennt die Zwillings-Geschichte nicht. Irgendwann wird deutlich, dass die Sache an einem Verhandlungstag nicht zu klären ist. Der in Biewer lebende Bruder von Samir soll als Zeuge geladen werden. "Der müsste ja ein gemeinsames Bild von beiden Zwillingsbrüdern mitbringen können", stichelt der Staatsanwalt. Wer weiß: Vielleicht stellt das Trierer Verfahren Fernseh-Prozesse in den Schatten und das Bild liegt beim nächsten Mal tatsächlich auf dem Richtertisch. Darauf will sich Helmut Reusch freilich nicht verlassen. Nach kurzem Geplänkel mit Verteidiger Ehrmann ("Sie glauben mir ja gar nichts, Sie sind schlimmer als meine Frau") entscheidet er, weiter nach behördlichen Spuren des Phantoms zu suchen. Das Gericht muss nicht hetzen: Samir B. sitzt sicher in Untersuchungshaft.

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