Eine versexte Nation betreibt Selbstdiagnose

Washington · Der jetzt nach wochenlangem Zögern zurückgetretene US-Kongressabgeordnete Anthony Wiener ist das vorerst letzte prominente Opfer von exzessiven Cybersex-Aktivitäten - und sicher ein besonders spektakulärer Fall. Ein Fall, der Wellen schlägt.

Washington. Welcher prominente Politiker versendet schon unaufgefordert von sich Fotos in Unterhosen, die eine deutliche Ausbuchtung zeigen, und andere pikante Aufnahmen - entstanden unter anderem in der Sporthalle des Kapitols - an nichtsahnende Damen? In Zeiten, da sich auf Facebook, Twitter und anderen sozialen Internet-Plattformen mit wenigen Mausklicks neue Bekanntschaften schließen lassen, steht die peinliche Affäre des "Penis-Abgeordneten" (so US-Medien) Anthony Wiener für einen klaren Trend: Sexting, eine amerikanische Wortschöpfung aus sex und texting (auf Deutsch: eine SMS schreiben) ist Studien zufolge längst nicht mehr ein nur unter Schülern und Jugendlichen populäres Phänomen.
Was dem 43-jährigen Parteifreund Barack Obamas jetzt zum Verhängnis wurde, zählt nach einer Studie des "Internet-Projects" des Pew Research Centers in den USA längst zu einer beliebten Freizeitbeschäftigung der über 18-Jährigen. Ein Drittel aller US-Bürger zwischen 18 und 29 Jahren gab an, schon einmal sexuell anzügliche Fotos von Personen erhalten zu haben, die sie kannten. Und 13 Prozent räumten bei der Befragung offen ein, derartige Aufnahmen auch schon einmal versandt zu haben.
Zwischen Ledigen und Verheirateten gibt es beim "sexting" dabei so gut wie keine statistischen Unterschiede - was vermutlich daran liegt, dass Ehepartner beim "Cybersex" mit Fremden davon ausgehen, dass diese digitale Kommunikation noch keinen Verstoß gegen das eheliche Treuegelöbnis darstellt. Deshalb finden sich "sexting"-Anhänger auch in der Altersgruppe der 30- bis 49-Jährigen, von denen immerhin jeder Sechste angibt, schon Aufnahmen mit sexuell expliziten Details - verschickt von Bekannten - in seiner Inbox gefunden zu haben. Die US-Kommunikationsexpertin Nancy Baym von der Universität Kansas warnt deshalb davor, Jugendliche als "Hauptschuldige" für diesen Online-Trend abzustempeln. "Wir dürfen sie nicht eines Verhaltens beschuldigen, das wir ebenfalls regelmäßig praktizieren," so die Professorin gegenüber der New York Times. Denn: "Auch Erwachsene sind in der Lage, online wirklich dumme Dinge zu tun." Gleichzeitig wird in den USA die Debatte geführt, in welchem Umfang das Internet und das "sexting"-Phänomen zu mehr Untreue in Beziehungen geführt haben. Baym sieht hier eine Tendenz zum Fremdgehen, da "das Internet die Zahl der verfügbaren Partner für romantische Beziehungen erhöht hat" - sei es durch einen harmlosen Flirt, den neuen Kontakt zu früheren Partnern oder durch eine "sexting"-Affäre mit Freunden oder Fremden.
Die Psychologin Kimberley Young, Direktorin des Zentrums für Online-Abhängigkeit im US-Bundesstaat Pennsylvania, hält das spektakuläre Verhalten des demokratischen Parlamentariers Wiener sogar für "sehr gewöhnlich". Zahlreiche Männer und Frauen würden ihre sexuellen Fantasien heimlich im Internet ausleben, so die Therapeutin.
Mediziner diskutieren derzeit, wo - vor allem mit Blick auf das "sexting" - die Grenze zu einem Verhalten verläuft, das sich bereits als Krankheit klassifizieren lässt. Psychologen sprechen bereits von klaren Fällen, wo "Patienten völlig außer Kontrolle geraten und dabei sind, ihr Leben zu ruinieren", so der New Yorker Psychatrieprofessor Richard Krueger. Für den Abgeordneten Wiener scheint diese Diagnose zuzutreffen: Seine politische Karriere ist nach Ansicht von Beobachtern nach dem Internet-Sexskandal beendet, der Traum von einem Bürgermeisteramt in New York im Jahr 2013 nicht mehr erreichbar.
Der wegen versuchter Vergewaltigung angeklagte frühere IWF-Chef Dominique Strauss-Kahn soll bei seiner Festnahme Mitte Mai zunächst versucht haben, diplomatische Immunität für sich geltend zu machen. Das geht nach einem Bericht der US-Finanznachrichtenagentur Bloomberg aus Akten der Staatsanwaltschaft hervor, die dem zuständigen Richter am Supreme Court von New York am Donnerstag (Ortszeit) vorgelegt wurden. Strauss-Kahn wird vorgeworfen, am 14. Mai ein Zimmermädchen in einem New Yorker Hotel zum Sex gezwungen zu haben. Er bestreitet die Vorwürfe. "Ich habe diplomatische Immunität", sagte der 62-jährige Franzose demnach, als die Polizei ihn kurz nach der angeblichen Tat auf dem John-F.-Kennedy-Flughafen aus einem startbereiten Flugzeug holte und ihm Handschellen anlegte. Als die Beamten seinen Pass sehen wollten, sagte der damalige Chef des Internationalen Währungsfonds laut Akten unter Bezug auf den Diplomatenstatus: "Es steht nicht in diesem Pass, ich habe einen zweiten Pass." Sein Anwalt Benjamin Brafman äußerte sich zunächst nicht zu den Angaben, aus denen hervorgeht, dass Strauss-Kahn nach der Festnahme um die Lockerung der Handschellen und mehrere Telefongespräche bat, um einen Termin für den darauffolgenden Tag abzusagen - den Berichten nach mit Bundeskanzlerin Angela Merkel. dpa

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