Wahlrecht Die Qual vor der Wahl

Mainz/Berlin/Daun · Bei der Kommunalwahl dürfen wohl mehr Behinderte abstimmen – im Rennen um Europa nicht.

 Nicht jeder Deutsche ab 18 Jahren darf wählen. Betreute Behinderte können keine Stimme abgeben. Doch die umstrittene Regel wackelt gewaltig.

Nicht jeder Deutsche ab 18 Jahren darf wählen. Betreute Behinderte können keine Stimme abgeben. Doch die umstrittene Regel wackelt gewaltig.

Foto: dpa/Wolfram Kastl

Die Rheinland-Pfälzer wählen am 26. Mai die kommunalen Parlamente und machen ihr Kreuz bei der Europawahl. Doch nicht alle Erwachsenen ab 18 Jahren dürfen eine Stimme abgeben. Behinderte, die auf einen gesetzlichen Betreuer angewiesen sind, haben in Deutschland kein Wahlrecht. Alleine im Land sind mehr als 2200 Menschen betroffen. Das soll sich rasch ändern.

Ein Urteil des Verfassungsgerichtshofs, der den Wahlausschluss von Behinderten im Januar als rechtswidrig einkassierte, setzt die Politik unter Druck. Die rot-gelb-grünen Ampelfraktionen in Rheinland-Pfalz bestätigen auf Anfrage unserer Zeitung, an einem geänderten Gesetzesentwurf zu arbeiten, den sie in den Mainzer Landtag einbringen wollen. Mehr behinderte Menschen könnten dann – sofern das Parlament mehrheitlich zustimmt – bereits bei der kommenden Kommunalwahl ihr Kreuz abgeben.

Doch die Zeit drängt. Da der Landtag im April nicht tagt, bis dahin aber die Wählerverzeichnisse stehen, müssen die Abgeordneten noch im März ein Gesetz durchpeitschen, das auf rechtlich sicheren Füßen steht. „Wir arbeiten mit Hochdruck daran, den Wahlausschluss abzuschaffen“, sagt der Grünen-Landtagsabgeordnete Daniel Köbler, der sich an der Regel stört: „Wählen ist in der Demokratie das wichtigste Bürgerrecht. Es ist unmöglich, einer großen Gruppe an Menschen dieses Recht absprechen wollen“, meint der Mainzer.

Der rheinland-pfälzische Behindertenbeauftragte Matthias Rösch fordert das Land auf, das Gesetz vor der Kommunalwahl zu ändern. „Wir sollten alles tun, Menschen nicht zu benachteiligen, sondern zu unterstützen, am öffentlichen Leben teilzuhaben“, sagt er.

Die Sicht von Kritikern, Behinderte mit gesetzlichen Betreuern könnten gar keine eigenständige Wahlentscheidung treffen, weist Alfred Haas zurück. Der Vorsitzende der Lebenshilfe Daun warnt vor Verallgemeinerungen. „Wenn behinderte Menschen sich über ihren Betreuer in leichter Sprache äußern können, sollen sie auch das Wahlrecht haben“, sagt Haas. Er selber habe eine Tochter mit Down-Syndrom. „Sie kann sich sehr gut artikulieren, kennt die bekannten Politiker und kann ohne weiteres eine Stimme bei den Wahlen abgeben.“

Das Problem: Wo Behinderte mit Betreuer bei der Kommunalwahl eine Partei ankreuzen könnten, bleibt ihnen das bei der Europawahl wahrscheinlich versagt. Dort sei eine Änderung des Wahlrechts vor dem 26. Mai nicht mehr möglich, teilt ein Sprecher des Bundesinnenministeriums mit und verweist auf die sogenannte Venedig-Kommission, die den Europarat in rechtlichen Fragen berät. Nach dem Gremium solle das Wahlrecht nicht später als ein Jahr vor einer Wahl geändert werden. „Die Neuregelung muss zur nächsten Bundestagswahl gelten“, sagt der Ministeriumssprecher. Diese steht erst 2021 an.

Oppositionspolitiker von Grünen und Linken, die für Freitag einen eigenen Gesetzesentwurf in den Bundestag einbringen, schäumen darüber. Corinna Rüffer, Grünen-Bundestagsabgeordnete aus Trier, wirft Union und SPD beim inklusiven Wahlrecht „ein blamables Schauspiel“ vor. Die Trierer Linken-Abgeordnete Katrin Werner sagt genervt: „Wir hoffen, dass bis zur Europawahl die Wahlgesetze geändert werden. Ich bin allerdings skeptisch, ob die Koalition ihre blockierende Haltung aufgeben wird.“

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