Interview Ex-Bundestagspräsident Norbert Lammert: „Große Koalitionen müssen die Ausnahme sein“

Trier · Der frühere Bundestagspräsident verrät, warum er der SPD die Daumen drückt und die Groko nicht bis zum Ende durchhalten wird.

   Glaubt nicht, dass die mit Unterbrechung seit 2005 amtierende große Koalition noch bis zum Ende der Legislaturperiode 2021 durchhällt: Ex-Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU).     Foto: Kay Nietfeld/dpa

Glaubt nicht, dass die mit Unterbrechung seit 2005 amtierende große Koalition noch bis zum Ende der Legislaturperiode 2021 durchhällt: Ex-Bundestagspräsident Norbert Lammert (CDU). Foto: Kay Nietfeld/dpa

Foto: Kay Nietfeld

Hält die große Koalition bis zum Ende der Legislaturperiode? Und was passiert, wenn bei den bevorstehenden Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg die AfD  tatsächlich stärkste Partei wird? Über diese Fragen und viele andere hat TV-Redakteur Rolf Seydewitz mit dem ehemaligen Bundestagspräsidenten Norbert Lammert gesprochen.

Herr Lammert, Sie waren schon häufiger in Trier. Was verbindet Sie mit der Stadt?

NORBERT LAMMERT Seit meiner Gymnasialzeit und dem Lateinunterricht ist mir Trier geläufig. Die historische Prägung der Stadt ist in einem beachtlichen Maß erhalten geblieben. Das unterscheidet sie auch von vielen anderen Städten ähnlicher Größenordnung.

Vor gut zwei Jahren haben Sie bei den Bitburger Gesprächen über die Parallelen von Politik und Religion gesprochen. Damals haben Sie gesagt, dass die einen unter Politikverdrossenheit, die anderen unter Glaubensverlust litten. Wie hat sich die Situation seitdem entwickelt?

LAMMERT Ich glaube, dass wir weder eine allgemeine Politikverdrossenheit in Deutschland haben, noch einen massiven Glaubensverlust, sondern dass es sehr konkrete Enttäuschungen mit sehr konkreten Entwicklungen im politischen und im kirchlichen Bereich gibt. Es erleichtert auf den ersten Blick die Auseinandersetzung, wenn man das mit Schlagworten zurückweist nach dem Motto: Gegen Politikverdrossenheit ist kein Kraut gewachsen und gegen Glaubensverlust schon gar nicht. Wenn man genau hinsieht, stellt man fest, dass es allerdings einen enormen Bindungsverlust gegenüber Organisationen gibt. Der trifft Parteien, Gewerkschaften, Vereine und auch Kirchen. Aber dass die Leute deshalb kein Interesse an Sport, Politik oder auch an grundsätzlichen ethischen Fragen hätten, halte ich für eine Vereinfachung der eigentlichen Herausforderungen.

Laut dem jüngsten ARD-Deutschlandtrend traut fast die Hälfte der Bürger keiner Partei mehr zu, die großen Zukunftsfragen zu lösen. Stimmt das nicht bedenklich?

LAMMERT Es wäre jedenfalls schöner, wenn es anders wäre. Aber auch das hat mit gesellschaftlichen Veränderungen zu tun. Der amerikanische Politikwissenschaftler Francis Fukuyama weist in seinem neuesten Buch darauf hin, dass es gerade in modernen Gesellschaften zu einer Segmentierung von Interessen gekommen sei, die das Formulieren von gemeinsamen Lösungen immer schwerer mache. Ich halte das für eine richtige Beobachtung und einen wichtigen Teil der Erklärung für die Bindungsverluste der traditionellen Volksparteien. Eine Erfahrung, die wir nicht nur in Deutschland machen, sondern in nahezu allen europäischen Ländern. Je mehr sich Interessen segmentieren, desto weniger wird man in Großorganisationen den bevorzugten Adressaten für die Verfolgung der eigenen Interessen sehen.

Kann Politik diese Segmente überhaupt noch erreichen?

LAMMERT Es macht jedenfalls den Politikprozess komplizierter. Und alleine die sich in verändertem Wahlverhalten niederschlagende Verfolgung immer kleinteiligerer Interessen macht das Bilden von belastbaren parlamentarischen Mehrheiten immer schwieriger. Ich beobachte mit einer Mischung aus Erstaunen und Amüsement, dass die Wählerinnen und Wähler mit Unverständnis auf die Folgen ihres eigenen Wahlverhaltens schauen, wenn nach einer Wahl die Regierungsbildung deutlich länger dauert, weil sie aufgrund der Zusammensetzung der Parlaments nicht mehr so einfach wie früher ist.

Muss eine Demokratie nicht damit leben können, dass es künftig vermehrt Koalitionen mit drei oder mehr Partnern gibt?

LAMMERT Natürlich muss eine Demokratie damit fertig werden. Demokratien gibt es ja nicht, um einem etablierten Parteiensystem immer wieder die gleichen Optionen neu zuzuspielen, sondern um in regelmäßigen Abständen den Bürgern die Möglichkeit zu geben, neu darüber zu entscheiden, von wem sie vertreten werden möchten. Aber nicht nur die Parteien haben eine Verantwortung, sondern auch die Wähler für ihr eigenes Wahlverhalten.

Bedeutet konkret?

LAMMERT Man kann nicht gleichzeitig auf eine immer größere Segmentierung setzen und sich anschließend über die daraus resultierenden Komplizierungen beschweren.

Die Union rangiert aktuell bei 26 Prozent, die SPD bei der Hälfte. Teilen Sie den Eindruck, dass Ihr aktueller Koalitionspartner ums Überleben kämpft?

LAMMERT Zumindest ums Überleben als Volkspartei. Dass die SPD in künftigen Parlamenten gar nicht mehr vertreten sein könnte, halte ich für eine übertriebene Befürchtung. Aber dass zum ersten Mal die SPD ihre Rolle als zweite Volkspartei der linken Mitte an eine andere Gruppierung, die Grünen, verlieren könnte, ist ein realistisches Szenario.

Jetzt könnten Christdemokraten dies ja mit zurückhaltender Schadenfreude von außen betrachten ...

LAMMERT Nein, das wäre völlig fehl am Platze: Erstens ist die CDU ebenfalls, wenn auch nicht im gleichen Maße, von diesen Erosionstendenzen betroffen. Und zweitens finde ich nicht, dass ein politisches System leistungsfähiger wird, wenn es in immer mehr Angebote zersplittert. Die SPD hat länger als irgendeine andere Partei eine herausragende Rolle für den Aufbau und die Stabilisierung demokratischer Verhältnisse in Deutschland gespielt. Deswegen würde ich mir sehr wünschen, dass sie dies weiter tun kann.

Inwiefern ist auch die vielleicht zu lange amtierende große Koalition schuld am Rückgang des Wählerzuspruchs für SPD und CDU?

LAMMERT Es gehört zur politischen Kultur einer reifen Demokratie, dass Demokraten konsens- und kompromissfähig, also auch koalitionsfähig sein müssen. Aber große Koalitionen müssen in einer vitalen Demokratie die Ausnahme bleiben. Dass wir am Ende dieser Legislaturperiode in zwölf der letzten 16 Jahre große Koalitionen gehabt haben werden, zeigt, dass uns inzwischen das Ausnahme-Regel-Verhältnis aus dem Ruder gelaufen ist. Natürlich führt das zur Schwächung des wahrgenommenen Profils dieser beiden Parteien. Davon ist die SPD noch stärker betroffen als die CDU.

Warum schwimmen die Grünen derzeit auf einer solchen Erfolgswelle?

LAMMERT Eine rundherum schlüssige Erklärung habe ich dafür auch nicht, zumal es gerade einmal anderthalb Jahre her ist, seit die Grünen bei den letzten Bundestagswahlen ein für sie enttäuschend schwaches  Ergebnis geholt haben. Und alle Themen, die im Augenblick scheinbar besonders aktuell sind, standen auch damals schon auf der Tagesordnung, haben aber offenkundig nicht die gleiche öffentliche Akzeptanz gefunden. Das zeigt, wie volatil öffentliche Stimmungen und politische Meinungsbildungen geworden sind. In ihrer Akzeptanz profitieren die Grünen natürlich von dem Umstand, dass die mit ihnen verbundenen Themen im Augenblick eine besondere Aufmerksamkeit bei den Wählern haben und die Grünen nicht Teil der Bundesregierung sind. Damit müssen sie den Test auf die Ernsthaftigkeit und Durchsetzungskraft ihrer eigenen Positionen auch nicht bestehen.

Ähnlich erfolgreich ist aktuell die AfD. Was sind hierfür die Gründe?

LAMMERT Es gibt nationale Besonderheiten, aber den Trend zum Populismus gibt es beinahe überall in Europa. Zur allgemeinen Erklärung gehört für mich, dass es in Zeiten der Globalisierung eine beachtliche Minderheit in allen modernen Gesellschaften gibt, die Ausmaß und Tempo der Veränderungen nicht als Errungenschaft, sondern als potenzielle Bedrohung empfindet. Und für die keine andere Parole attraktiver ist als die Auskunft: Das muss alles nicht so sein. Wenn ich nach deutschen Besonderheiten suche, fällt mir natürlich wieder die große Koalition ein. Viele haben ihre Erwartungen an Politik weder in der amtierenden Regierung noch in der Opposition wiedergefunden. Dies führt fast zwangsläufig zu neuen politischen Angeboten, für die sich dann eine Nachfrage findet.

Im Herbst sind Landtagswahlen in Sachsen und Brandenburg. In beiden Ländern liegt die AfD derzeit vorne. Was würde es bedeuten, wenn sie dort bei den Wahlen stärkste Partei wird?

LAMMERT Freie Wahlen gehören zu den Selbstverständlichkeiten einer funktionierenden Demokratie. Würde es zu einem solchen Wahlergebnis kommen, würde es deutlich machen, wie sehr die Erwartungen vieler Wähler von dem wahrgenommenen Politikangebot der etablierten Parteien abweichen. Dann muss man sich die Mehrheitsverhältnisse anschauen und die sich daraus ergebenden Möglichkeiten ausschöpfen, um eine möglichst stabile Mehrheit für ausgewiesen demokratische Kräfte zusammenzubringen. Das ist nach Wahlen die Verantwortung derjenigen, die gewählt sind. Und vor Wahlen ist es die Verantwortung der Wählerinnen und Wähler, die anschließend nicht so tun können, als seien sie für die Verhältnisse, die sie selbst herbeigeführt haben, nicht verantwortlich.

Der CDU-Parteivorstand hat sich zumindest auf Länderebene kategorisch gegen eine Zusammenarbeit mit der AfD ausgesprochen. Halten Sie das für richtig?

LAMMERT Ja. Diese Klarstellung war auch mit Blick auf aktuelle Debatten angezeigt, wenn auch nicht neu: Ein CDU-Bundesparteitag hatte  schon vor Jahren einen solchen Beschluss gefasst.

Wird die große Koalition die gesamte Legislatur halten?

LAMMERT Ich war schon zu Beginn der Legislaturperiode skeptisch, ob dieser Bundestag das Ende seiner Laufzeit erreicht. Diese Zweifel sind durch die jüngere Entwicklung nicht kleiner geworden.

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