Experte wirft Pharmaindustrie Profitgier vor

Berlin · Die Menschen werden immer älter. Gleichzeitig steigt damit das Krebsrisiko. "Wenn wir alle alt genug würden, würde wahrscheinlich jeder von uns Krebs entwickeln", sagt der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach. Die bösartigen Gewebebildungen seien eine Verschleißerkrankung der Gene. Und die Pharmaindustrie verdiene kräftig an deren Behandlung.

Berlin. Bereits jetzt gibt es pro Jahr etwa 500 000 neue Krebspatienten in Deutschland. Nach Einschätzung von Karl Lauterbach, der auch Professor für Gesundheitsökonomie und Klinische Epidemiologie an der Uni Köln ist, dauert es noch etwa drei Jahrzehnte, bis die Forschung der Krankheit Herr werden könnte. Bis dahin kommen immer mehr "Babyboomer", also die Mitte der 1950er bis Anfang der 1960er Jahre Geborenen, ins hohe Alter, von denen jeder Zweite an Krebs erkranken dürfte.
"Medikamente überschätzt"


Zwar sind schon viele neue Medikamente entwickelt worden, aber oft bringen sie nur vorübergehend Linderung. "Der Krebs lernt schnell mit der Therapie umzugehen und kommt dann zurück mit geballter Kraft", sagt Lauterbach.
Zugleich werden die Arzneien immer teurer. Zwischen 50 000 und 100 000 Euro pro Patient und Jahr kosten moderne Therapien. Nach Ansicht Lauterbachs sind solche Summen aber keineswegs gerechtfertigt, wenn man den Nutzen in Betracht zieht: "Zum jetzigen Zeitpunkt werden die Medikamente sehr überschätzt."
Der studierte Mediziner hat dazu in dieser Woche ein provokantes Buch veröffentlicht. Darin wirft er der "Krebsindustrie" Profitgier und "Goldgräberstimmung" vor. Die Forschungskosten der Pharmaunternehmen seien mitnichten so hoch wie behauptet, Medikamente müssten vor der Zulassung länger geprüft werden, ohne gegenzusteuern werde das Gesundheitssystem finanziell gesprengt - das sind im Kern Lauterbachs Thesen, die bei den Adressaten prompt für Aufregung sorgen.
Gegen Lauterbach spreche "die stetige Verlängerung der Überlebenszeit" bei Krebspatienten, kontert Norbert Gerbsch vom Bundesverband der Pharmazeutischen Industrie (BPI). Von einer Kostenexplosion könne keine Rede sein, betont die Hauptgeschäftsführerin des Verbands Forschender Arzneimittelhersteller (VFA), Birgit Fischer. Sie verweist darauf, dass die jährlichen Ausgaben der gesetzlichen Krankenkassen für onkologische Arzneien zwischen 2011 und 2014 nahezu konstant bei gut zehn Prozent der Gesamtausgaben für Medikamente gelegen haben. Freilich sind hier fertige Arzneimittel gemeint. Experten zufolge kommen die Kosten individuell hergestellter Rezepturen für onkologische Patienten obendrauf.
Ein weiteres Argument Fischers: Seit 1980 hat sich die Zahl der jährlich neu an Krebs Erkrankten verdoppelt, während die Zahl der krebsbedingten Todesfälle gleichgeblieben ist. Nach Ansicht des Bremer Gesundheitsforschers Gerd Glaeske steckt dahinter allerdings nicht automatisch eine bessere Krebsbehandlung. "Dass die Anzahl der festgestellten Erkrankungen steigt, geht zum Teil auf bessere Früherkennungsmaßnahmen zurück. Doch nicht alle Krebserkrankungen führen zum Tode. Das gilt zum Beispiel für Prostatakrebs", entgegnet Glaeske.
Unter Mitwirkung des studierten Pharmazeuten kam ein Gutachten für das Bundesgesundheitsministerium schon 2010 zu ähnlichen Schlüssen, wie sie Lauterbach jetzt in seinem Buch vertritt. Hintergrund waren bereits damals Überlegungen, dass Krebsmedikamente wegen der enormen Kosten eines Tages womöglich nicht mehr von den Kassen bezahlt werden könnten. "Diese Befürchtungen lassen sich nur zerstreuen, wen man zu anderen Rahmenbedingungen gegenüber den Herstellern kommt", sagt Glaeske heute. Die Frühbewertung eines Medikaments zum Beispiel reiche nicht aus. "Man muss über drei oder vier Jahre schauen, was es wirklich bringt. Und wenn es sich nicht bewährt, müssen die Firmen Geld zurückzahlen", sagt Glaeske.
Beim Spitzenverband der gesetzlichen Krankenkassen (GKV) sieht man das naturgemäß genauso. "Der Kostendruck durch die Pharmaindustrie nimmt zu", erläutert GKV-Vorstandsvize Johann-Magnus von Stackelberg. Bei innovativen Medikamenten könnten Pharmaunternehmen nach geltender Rechtslage im ersten Jahr nach Markteinführung "jeden x-beliebigen Preis" zulasten der Kassen verlangen.
Änderung gefordert



"Das muss sich ändern", meint Stackelberg. So müsse der zwischenzeitlich ausgehandelte Preis mit den Kassen künftig rückwirkend gelten, also auch für das erste Jahr. Glaeske empfiehlt gar eine Nutzenbewertung auf europäischer Ebene, damit Pharmafirmen bei der Zulassung ihrer Medikamente nicht ein Land gegen das andere ausspielen könnten.
Für den interessierten Laien mag das sehr technisch klingen. Wenigstens kann er der tückischen Krankheit vorbeugen: gesunde Ernährung, mehr Bewegung und keine Zigaretten. Das Rauchen, so Lauterbach, bleibe der größte Risikofaktor für Krebs.

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