Mehrheit der Ampelkoalition schrumpft FDP will Abgeordnete aus der Fraktion werfen

Mainz · Die Mehrheit der Ampelkoalition könnte auf eine Stimme schrumpfen, weil Helga Lerch bei den Liberalen aneckt. Es droht eine politische Schlammschlacht.

 Helga Lerch hat Streit mit ihrer FDP-Fraktion und wird wohl nicht mehr lange dazugehören.

Helga Lerch hat Streit mit ihrer FDP-Fraktion und wird wohl nicht mehr lange dazugehören.

Foto: FDP/Christian Kuhlmann

Es brodelte schon lange zwischen der Abgeordneten Helga Lerch und ihrer FDP-Fraktion im Mainzer Landtag. Nun kommt es zur politischen Explosion. Die Liberalen wollen die Rheinhessin aus der Fraktion werfen und haben einen Ausschlussantrag gestellt, den die sechs anderen Abgeordneten unterzeichnet haben. Fliegt Lerch aus der Fraktion, schrumpft die Mehrheit der Ampelkoalition im Land auf 51:50 und damit auf eine einzige Stimme zusammen.

Das Vertrauensverhältnis zwischen der Rheinhessin und den Liberalen ist schon lange zerrüttet, weil Lerch als scharfe Kritikerin von Bildungsministerin Stefanie Hubig (SPD) mehrfach in der Koalition aneckte. Jetzt droht sogar eine politische Schlammschlacht. Im Ausschlussantrag, der unserer Zeitung vorliegt, beschreibt die FDP-Fraktion auf acht Seiten, warum die Unterzeichner sich eine weitere Zusammenarbeit mit Lerch nicht mehr „zumuten“ wollen.

Besonders Lerchs Äußerungen im Ausschuss für Gleichstellung und Frauenförderungen brachten das Fass zum Überlaufen. Die Abgeordnete sagte, dass die Schulaufsicht bei sexuellen Übergriffen gegen Schüler nach ihrer Erfahrung lange zögere, Kollegen aus dem Schuldienst zu entfernen – und deutete damit vertuschte Fälle an.

Es kam zu einer Sondersitzung des Bildungsausschusses. Lerch bezog sich da auf zwei Fälle von 2012 und 2014, bei denen es nach Aussage der Schulaufsicht aber Disziplinarverfahren gegeben habe. Der Fraktion stieß es übel auf, dass Lerch sich zunächst gesperrt haben soll, Fakten zu nennen. Ihre Aussagen eigneten sich, Lehrer unter Generalverdacht zu stellen, Schüler und Eltern zu verunsichern, heißt es in dem Ausschlussantrag. Mehrere wütende Lehrer sollen Briefe an die Fraktion geschrieben haben, weil sie sich von Lerch als „Grapscher“ verunglimpft sahen, sagen Liberale.

Die Vorwürfe im Antrag reichen noch weiter: Einem Abgeordneten habe sie am Telefon persönlich gedroht. FDP-Fraktion und Koalition seien ihr „egal“, sie werde „uneingeschränkt“ für ihre Interessen eintreten, zitiert das Papier sie weiter. Liberalen Ärger entfachte Lerch auch, weil sie im Oktober 2019 bei einer Rede im Landtag ohne Rücksprache eine Unterrichtsversorgung von 105 Prozent als ideal bezeichnet habe und damit Bildungsministerin Hubig brüskierte. Lerch – an jenem Tag gesundheitlich angeschlagen – brach später während eines Gesprächs mit FDP-Landeschef Volker Wissing zusammen. Die FDP-Fraktion will die Abgeordnete auch rauswerfen, weil sie bei einer Rede von Fraktionschefin Cornelia Willius-Senzer zur Bildungspolitik nicht geklatscht und eine Sitzung des Landtags unentschuldigt früher verlassen habe.

Entmachtet ist Lerch schon seit einiger Zeit. Zu bildungs- und kulturpolitischen Themen durfte sie in der vergangenen Woche nicht sprechen. Einen eigenen Austritt aus der Fraktion hält sie sich offen. „Ich warte ab und gehe von Tag zu Tag meine Schritte“, sagte Lerch auf Anfrage unserer Zeitung. Den Ausschlussantrag gegen die Rheinhessin, über den die „Allgemeine Zeitung“ zuerst berichtet hatte, bestätigte sie. Das Schreiben habe sie am Freitag „im Briefkasten“ gefunden. Die Abgeordnete kontert: Lerch nennt die Begründungen der FDP-Fraktion „nicht sachgerecht“ und deutet an, zur Fraktionssitzung am heutigen Montag nicht zu erscheinen. Ihre Kritik am Zustand in Schulen verteidigt sie. „Man regt sich schnell auf, wenn jemand nicht stromlinienförmig ist und pikante Fragen stellt“, sagt sie. Sie folge aber ihrem persönlichen Wertekompass. „So verstehe ich meinen Auftrag als Abgeordnete.“ Der Fraktion wirft sie vor, ihr „Redeverbot“ im Landtag erteilt zu haben und von ihr geschriebene Reden „in der Luft zerrissen zu haben“. Lerch sagt: „Die Intention dahinter war schon zu spüren und ist für mich menschlich ein interessantes Lehrstück.“

Möglicherweise zeigt sich schon heute, ob Lerch freiwillig geht oder ob die Fraktion sie rauswirft. Die 64-Jährige wäre neben dem Konzer Jens Ahnemüller und Gabriele Bublies-Leifert (beide vormals AfD) die dritte fraktionslose Abgeordnete im Landtag. Lerch, seit 1976 FDP-Mitglied, stellt klar: „Ich habe keine Ambitionen, in andere Fraktionen einzutreten.“ Die oppositionelle CDU stärkt der Ex-Schulleiterin den Rücken, lobt sie als fraktionsübergreifend geschätzte bildungspolitische Expertin, die Missstände anspreche. Der Landtagsabgeordnete Alexander Licht aus Brauneberg (Kreis Bernkastel-Wittlich) kritisierte auf Facebook: „Die FDP entwickelt sich unter Wissing zum Wurmfortsatz der SPD.“

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