Gegen den Strom

Washington · Ist das höchste Gericht der USA künftig eher liberal, oder haben Konservative das Sagen? Der plötzliche Tod eines Richters wirft diese Frage auf - und sorgt für einen neuen heftigen Streitpunkt im Präsidentschaftswahlkampf.

Washington. Antonin Scalia war ein Original, stockkonservativ in seinen Ansichten und zugleich so unterhaltsam, dass es Zeitgenossen gab, die allein wegen seiner Auftritte zu den Anhörungen ins oberste Gericht im Washingtoner Regierungsviertel kamen. Als die Neunerrunde der Höchstrichter den Protest der Republikaner abblockte und Barack Obamas Gesundheitsreform für verfassungskonform erklärte, sprach Scalia mit charakteristischem Sarkasmus von verbalem Kuddelmuddel. Der Staat, heißt es im Text der Reformnovelle, habe jene Online-Börsen zu organisieren, an denen Interessenten nach der geeignetsten Krankenversicherung suchen können. Während das Weiße Haus darauf beharrte, mit dem Passus sei das Staatswesen als Ganzes gemeint, bestanden Kritiker auf einer engeren Auslegung. Das Wort Staat bedeute: der einzelne Bundesstaat. Ergo, argumentierten sie, verstoße die Föderation gegen den Buchstaben des Gesetzes, wenn sie Versicherungsbörsen einrichte. Eine Richtermehrheit wies den Einspruch der Obama-Gegner ab, worauf Scalia mit der ihm eigenen Schärfe protestierte. "Wo kommen wir hin, wenn Worte keine Bedeutung mehr haben? Zu semantischem Apfelbrei." Es war, im Juni 2015, der Moment, in dem er zum letzten Mal für Aufsehen sorgte.
1986 vom Präsidenten Ronald Reagan ernannt, war der Sohn italienischer Einwanderer das, was US-Juristen einen Verfassungsfundamentalisten nennen. Die Auffassung, nach der man Paragrafen, die im späten 18. Jahrhundert zu Papier gebracht wurden, nicht immer wörtlich nehmen könne, sondern vielmehr im Kontext der gesellschaftlichen Realität betrachten müsse, lehnte er ab. In der Praxis führte es zu einem kategorischen Nein zum Abtreibungsrecht oder zur Homo-Ehe. In seiner wohl wichtigsten Urteilsbegründung, einer Begründung, die er 2008 im Namen einer Fünf-Stimmen-Mehrheit der Höchstrichter niederschrieb, sprach Scalia Privatbürgern das Recht zu, Schusswaffen zu besitzen, um sich im Gefahrenfall verteidigen zu können. Damit setzten sich die Gegner strengerer Kontrollen gegen jene durch, die den zweiten Zusatzartikel zur US-Verfassung eher so interpretierten, dass man der Armee oder der Polizei angehören müsse, um eine Waffe tragen zu dürfen.
Der 79-Jährige starb während eines Jagd-Wochenendes auf einer Ranch im westlichen Texas im Schlaf. Mit seiner Frau Maureen McCarthy, mit der er seit 1960 verheiratet war, hatte er neun Kinder.
Kaum hatte die Meldung von seinem Tod die Runde gemacht, begann auch schon das Tauziehen um seine Nachfolge. Brisant ist der Streitfall schon deshalb, weil der Supreme Court im politischen System der USA ein Gewicht hat, wie man es aus den meisten anderen Ländern nicht kennt.
Neun auf Lebenszeit ernannte Richter, gekleidet mit schwarzen Roben, geben einander feierlich die Hände, bevor sie ihre Sitzungen beginnen. Dabei symbolisieren die einen das konservative, die anderen das progressive Amerika, je nachdem, ob der Staatschef, der sie ernannte, Demokrat war oder Republikaner. Theoretisch könnte Obama der Riege der Progressiven so entscheidend stärken, dass sie erstmals seit langem die Oberhand bekäme. Nur müssen mindestens 60 Senatoren zustimmen, und da die Republikaner derzeit über 54 der 100 Senatssitze verfügen, wäre ihre Blockade vermutlich erfolgreich.Extra

Der neun Richter zählende Supreme Court ist das höchste Gericht der USA und damit das mächtigste Organ der amerikanischen Rechtsprechung. Die Grundsatzentscheidungen des obersten Gerichtshofes sind meist von landesweiter Bedeutung und prägen die Auslegung von Gesetzen an unteren Gerichten über viele Jahre. Entsprechend heftig wird um die Besetzung frei gewordener Posten gestritten, wenn einer der auf Lebzeiten ernannten Richter stirbt oder auf eigenen Wunsch in Ruhestand geht. Die Richter werden vom Präsidenten nominiert, der die Rechtsprechung so noch lange nach Ende seiner Amtszeit beeinflussen kann. Der Senat muss seine Nominierung bestätigen. dpa

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