Grüner Aufbruch mit Bodenhaftung

Strickzeug, Anti-Atom-Sticker, Birkenstocks: Wer auf der Suche nach Klischees ist, den muss die rheinland-pfälzische Grünenfraktion enttäuschen. Die 18 Neu-Abgeordneten unterscheiden sich äußerlich in keiner Weise von ihren Kollegen in SPD und CDU. Viele sind gestandene Frauen und Männer, die Kinder großziehen, in bürgerlichen Berufen arbeiten und sich eher in der Kita-Elterngruppe engagieren als in Kämpfen gegen die Startbahn West.

Mainz. Allein die Umstände der ersten Begegnung zwischen Medien und Abgeordneten waren ein wenig untypisch für den rheinland-pfälzischen Politikbetrieb. Da die 18 Abgeordneten derzeit auf gepackten Umzugskartons sitzen, kam es zu zwei Plauderstunden in der Cafébar 7 Grad, einer Lounge im Mainzer Zollhafen. Ein Ort, der durchaus dafür stehen könnte, was grün heute auch ist: schick, cool und irgendwie trendy.

Bunt ist die Grünentruppe allenfalls, was die Biografien ihrer Mitglieder angeht. Da wäre zum Beispiel Anne Spiegel (30) aus Speyer, die als Kind Pinguinforscherin werden wollte und später ein Jahr mit Rucksack um die Welt reiste. Im Juni wird die Politologin ihr erstes Kind bekommen. Oder der Mainzer Rahim Schmidt (52), der aus dem Iran stammt und vermutlich der erste Migrant ist, der in den Landtag einzieht. Der höfliche Mann mit Jackett und Krawatte hat gleich zweifach promoviert: in Medizin und in Agrarwissenschaften.

Die grüne Welt hat viele Seiten: Im Café 7 Grad versammeln sich die Abgeordneten artig zum Gruppenbild. Dann verteilen sich die Politiker an den Tischen, zum Kennenlernen und Diskutieren. Schnell wird klar, dass es neben der Atomdebatte und der Umweltpolitik vor allem Bildungsthemen sind, die das grüne Herz bewegen. "Wir müssen die demografische Rendite konsequent in das Bildungssystem investieren: in kleinere Klassen und mehr individuelle Förderung", sagt Nils Wiechmann. Der Koblenzer erlebt mit 35 Jahren seinen zweiten grünen Frühling. Von 2001 bis 2006 saß er bereits für die Grünen im Landtag. Nach deren Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde amtierte er zwei Jahre als Landesvorstandssprecher. "Jetzt freue ich mich, dass wir die Scharte auswetzen konnten", sagt er nicht ohne Stolz.

Damit trifft er die Stimmung im Raum: Die Grünen sind voller Tatendrang und Enthusiasmus - und zugleich bodenständig und realistisch. "Wir spüren nach diesem Wahlergebnis eine große Verantwortung, die aber mit Freude", sagt Katharina Raue (47). Die Rechtsanwältin ist Fachfrau für Innen- und Justizpolitik. Sie will sich für die "freiheitliche Durchsetzung von Grundrechten" starkmachen.

Ein besseres Bildungssystem ist der Mutter von drei Kindern aus Urbar bei Koblenz auch ein Anliegen. Ebenso wie Elisabeth Bröskamp (41), die vier Kinder großzieht: Die Referendarin aus Windhagen tritt dafür ein, "dass auch in den Gymnasien die Klassengrößen verkleinert werden".

Anna Neuhof aus Kirchen (Sieg), mit 59 "Alterspräsidentin" der Fraktion, fordert indes einen neuen Politikstil. Die rothaarige Psychiatriekrankenschwester mit den freundlichen Lachfalten sagt: "Die Bürger akzeptieren auch unangenehme Entscheidungen, wenn man die Gründe dafür offen und ehrlich erklärt." Worte, die in den Ohren von Jutta Blatzheim-Roegler (54) schon sehr konkret klingen. Die Abgeordnete aus Bernkastel-Kues ("hier war ich einst die erste Grüne") ist eine Gegnerin des Hochmoselübergangs und steht gleich im politischen Feuer.

Und was ist der gemeinsame politische Nenner der Grünen? "Wir setzen uns stärker als andere für gesellschaftliche Teilhabe ein", so der Kinderarzt Fred Konrad (49) aus Käshofen (Südwestpfalz). Ein Beispiel ist die Integration beeinträchtigter Menschen: "Die Frage ist hier nie, wer behindert ist, sondern immer nur, wer behindert wird."

EXTRA



Wahlergebnis amtlich: Das amtliche Endergebnis der Landtagswahl in Rheinland-Pfalz vom 27. März ist gestern offiziell verkündet worden. Danach hat die SPD mit 35,7 Prozent der Stimmen ihre absolute Mehrheit verloren (minus 9,9 Prozentpunkte zu 2006) und kommt im neuen 16. Landtag auf 42 Sitze (minus 11 Sitze). Die Grünen kehren mit 15,4 Prozent (plus 10,8) in den Landtag zurück, sie gewannen 18 Sitze. Die CDU landete mit 35,2 Prozent (plus 2,4) knapp hinter der SPD und schickt 41 Abgeordnete ins Parlament (plus 3). Die FDP scheiterte dagegen mit 4,2 Prozent (minus 3,8) an der Fünf-Prozent-Hürde - ebenso die Linkspartei, die auf 3,0 Prozent kam (plus 0,4). Die NPD (1,1) und die Republikaner (0,8) verloren zusammen 1,0 Prozentpunkte. Die Freien Wähler erhielten 2,3 Prozent der Stimmen. Bei den erstmals angetretenen Piraten machten 1,6 Prozent der Wähler ihr Kreuz. Die Wahlbeteiligung lag bei 61,8 Prozent. 2006 hatte sie bei 58,2 Prozent gelegen. dpa

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