Heimlicher Hochzeitskuchen

ROMMELFANGEN. Die Wiedervereinigung. Alle Deutschen denken da an 1990, als BRD und DDR ein Staat wurden. Besser: fast alle. Denn an der Saar lebt in diesen Tagen die Erinnerung an die "kleine Wiedervereinigung" auf: Am 23. Oktober 1955 stimmten die Saarländer für eine Eingliederung in die Bundesrepublik. Zeitzeugen erinnern sich lebhaft an die turbulenten Jahre, die vor-ausgegangen waren.

Einer ging immer vor. Auffällig, so dass die Grenzposten ihn bemerken und reagieren mussten, falls sie in der Nähe waren. Erst, wenn ein Pfiff des Spähers reine Luft signalisierte, näherten sich die anderen der Grenze. Mit Kleidern. Leinen. Und allem, was sonst zur Aussteuer von Franz Noners Tante gehörte. Der 75-jährige Rommelfangener erzählt von jenen Nächten im Jahr 1948, als sei es nicht Jahrzehnte, sondern Tage her, dass er mit Angehörigen die Habseligkeiten der jungen Frau über die Grenze schmuggelte - sie hatte im damals von Deutschland getrennten Saarland den Mann fürs Leben gefunden und wollte heiraten. Meist, erzählt Franz Noner, sei der Schmuggel freilich in die andere Richtung gegangen: Durch die wirtschaftliche Anbindung an Frankreich gab es im Saarland bereits Luxusgüter, von denen man diesseits der Grenze nur träumen konnte. Zigaretten beispielsweise. Und Schokolade.Organisiert und im großen Stil sei damals geschmuggelt worden. "Ein Bekannter ist nachts manchmal zwei-, dreimal über die Grenze gegangen und kam mit einem Rucksack zurück. Der hat innerhalb kurzer Zeit mehr verdient als wir Landwirte in einem ganzen Jahr!"

Vor genau 50 Jahren, am 23. Oktober 1955, machten die Saarländer solchen Auswüchsen ein Ende: 67,7 Prozent lehnten bei einem Referendum das so genannte europäische Saarstatut ab und stimmten damit für eine Rückgliederung in die Bundesrepublik. Nach dem Statut wäre das Saarland innenpolitisch autonom geblieben und außenpolitisch von einem Kommissar der Westeuropäischen Union vertreten worden. Darauf hatten sich Bundeskanzler Konrad Adenauer und Frankreichs Regierungschef Pierre Mendès-France verständigt. Sie verbanden mit einem europäischen Saar-Staat hohe Erwartungen: Das Land sollte eine Vorreiterrolle auf dem Weg zur Einigung Europas übernehmen. Doch die Saarländer machten den Politikern einen Strich durch die Rechnung.

Dem Referendum war ein harter, emotionaler Wahlkampf vorausgegangen. Zeitzeugen erzählen, dass es monatelang nur dieses eine Thema gab, dass die Gesellschaft zutiefst gespalten war, dass Freundschaften und sogar Familien zerbrachen.

Am 1. Januar 1957 wurde das Saarland politisch in die Bundesrepublik eingegliedert, im Juli 1959 fielen die Zollschranken. Damit waren die abenteuerlichen Zeiten an der Grenze endgültig vorbei - für Schmuggler, aber auch für ganz normale Bürger, die bisweilen heimlich nach "drüben" liefen. So

erzählt Noner, im Saarland habe es nach dem Krieg bereits Tanzveranstaltungen gegeben, als Deutschland noch in tiefer Depression verharrte. Was Wunder, dass es junge Leute in solchen Nächten über die Grenze zog.

Zusammen mit 20 anderen Burschen aus Rommelfangen und Umgebung war Franz Noner einst bei der Kirmesmusik in Sinz, als vor der Gaststätte plötzlich Soldaten auftauchten. Für einige der Jugendlichen endete der Ausflug dort, wo auch geschnappte Schmuggler Station machen mussten: in der Arrestzelle. "Sie haben Prügel bekommen und wenig zu essen." Franz Noner hatte mehr Glück - auch bei den heimlichen Ausflügen vor der Heirat seiner Tante. Kleider und Aussteuer kamen ohne Probleme im neuen Zuhause jenseits der Grenze an. Genauso wie wenig später die wohl am sehnlichsten erwartete Schmuggelware jener Nächte: der Hochzeitskuchen.

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