Hochwasser-Katastrophe Zu spät vor der Flut gewarnt? Staatsanwalt prüft

Bad Neuenahr/Ahrweiler · Recherchen der Rhein-Zeitung zeigen, dass die Menschen im Ahrtal von der zuständigen Kreisverwaltung viel zu spät gewarnt wurden. Das könnte nun auch juristische Folgen haben.

 Ein Wegweiser weist zum Lebenshilfe-Haus in Sinzig. In der Behinderteneinrichtung sind durch das Hochwasser zwölf Menschen ums Leben gekommen.

Ein Wegweiser weist zum Lebenshilfe-Haus in Sinzig. In der Behinderteneinrichtung sind durch das Hochwasser zwölf Menschen ums Leben gekommen.

Foto: dpa/Thomas Frey

Hübsche Städtchen, steile Felsen und sanft geschwungene Hügel voller Weinstöcke. Seiner Idylle wegen war das Ahrtal weit über die Grenzen des Landes hinaus bekannt. Inzwischen verbindet die Welt Bilder des Schreckens mit diesem Landstrich, der Mitte Juli von unfassbaren Wassermassen innerhalb weniger Stunden verwüstet wurde.

Noch immer steigt die Zahl der Todesopfer. Wie das Polizeipräsidium Koblenz am Montag mitteilte, verloren 138 Menschen ihr Leben in den Fluten, 106 von ihnen sind identifiziert. 26 Bewohner werden weiterhin vermisst. Bis zum Wochenende waren 135 Menschen tot geborgen worden. Hunderte weitere wurden verletzt. Existenzen sind vernichtet. Häuser, Straßen und Brücken von den reißenden Wassermassen fortgespült – und mit ihnen die Zukunftspläne der Menschen, die im Ahrtal leben. Oder leider: lebten. Wie Miriam Lange von der Pressestelle der fürs Ahrtal zuständigen Katastrophenschutzbehörde ADD erklärt, haben viele Bewohner die Region verlassen. Sie wohnen nun bei Freunden und Verwandten. „Die Zerstörung ist so immens, so unvorstellbar“, sagt Lange.

Am Wochenende wuchs die Kritik am Krisenmanagement des Kreises Ahrweiler und speziell an Landrat Jürgen Pföhler (CDU), der seine Wurzeln in der Region Trier hat: 1958 wurde er in Wittlich geboren, wuchs in Prüm auf und studierte in Trier Jura. Auch in den sozialen Netzwerken wird die Empörung lauter angesichts der immer neuen Erkenntnisse aus der Flutnacht, die laut Rhein-Zeitung alle einen Schluss nahelegen: Die Menschen im Ahrtal sind vor den tödlichen Fluten offenbar viel zu spät und nicht ausreichend gewarnt worden.

Nun könnte dies auch juristische Folgen haben. Die Staatsanwaltschaft prüft nach der Flutkatastrophe im Ahrtal die Einleitung eines Ermittlungsverfahrens wegen des Anfangsverdachts der fahrlässigen Tötung und der fahrlässigen Körperverletzung. Dabei gehe es um möglicherweise unterlassene oder verspätete Warnungen oder Evakuierungen der Bevölkerung, teilte die Koblenzer Behörde am Montag mit. In diese Prüfung sollen neben der „umfangreichen Presseberichterstattung“ auch Feststellungen aus Todesermittlungsverfahren sowie allgemeine polizeiliche Hinweise aus der Katastrophennacht vom 14. und 15. Juli einbezogen werden. Gegen wen sich der Anfangsverdacht richtet, wurde in der Mitteilung nicht gesagt.

In der Kritik stand zuletzt vor allem der Landrat. Das rheinland-pfälzische Landesamt für Umwelt (LfU) in Mainz hatte am Wochenende die Rechercheergebnisse der Rhein-Zeitung bestätigt. Demnach sei der Krisenstab des Kreises Ahrweiler am 
14. Juli, dem Tag der Flutkatastrophe, frühzeitig und präzise vor dem Hochwasser gewarnt worden – und zwar online auf der Seite des Hochwassermeldedienstes sowie mit automatisierten E-Mails, in denen auch die gewaltigen Prognosen bei den Wasserständen mitgeteilt worden waren.

Im Detail lief das folgendermaßen ab: Das LfU erstellt seine Hochwasservorhersage nach eigenen Angaben auf Basis der Vorhersagedaten des Deutschen Wetterdienstes (DWD). Die gemessenen Pegelstände werden alle 15 Minuten auf der Internetseite www.hochwasser-rlp.de aktualisiert. Diese Pegelstände fließen dann in die Berechnung für aktualisierte Prognosen ein. Nachdem am 14. Juli – nach einem kurzzeitigen Rückgang der Prognosen – bereits um 19.45 Uhr der tatsächlich gemessene Pegelstand in Altenahr bei 4,29 Metern lag, sei auf der Internetseite die Vorhersage auf über fünf Meter erhöht worden, erklärte ein LfU-Sprecher. Das waren bereits rund 1,30 Meter mehr als bei dem katastrophalen Hochwasser von 2016.

Zu dieser Zeit stieg die Ahr um 30 bis 40 Zentimeter alle 15 Minuten. Eine Stunde später lautete die Vorhersage auf der Internetseite dann sogar „mehr als 690 Zentimeter“. Das war allerdings auch die letzte Meldung, da zu diesem Zeitpunkt der Pegel in Altenahr von den Fluten fortgerissen wurde. Zuletzt gemessen hatte er um 20.45 Uhr: 5,75 Meter.

Zusätzlich zur Internetseite des Hochwassermeldedienstes wurden nach LfU-Angaben in einem automatisierten Verfahren im Drei-Stunden-Rhythmus aktualisierte Vorhersagen per E-Mail an die Kreisverwaltung geschickt. Und die klangen am Abend zunehmend bedrohlich. In der letzten E-Mail um 21.26 Uhr wurde ebenfalls auf die Prognose von unvorstellbaren 6,90 Metern in Altenahr hingewiesen, wie die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ am Samstag berichtete. Trotzdem dauerte es noch bis in den späten Abend, bis der Krisenstab in Ahrweiler den Katastrophenfall (Warnstufe 5) ausrief. Erst um 23.09 Uhr wurde eine Evakuierungsaufforderung für den Bereich 50 Meter links und rechts des Flusses verbreitet – viel zu spät und viel zu wenig, wie sich dann herausstellte. In einem Lagebericht, der um 23.15 Uhr per Twitter gesendet wurde, verkündete Landrat Jürgen Pföhler den Katastrophenfall und warnte eindringlich vor Lebensgefahr. Dabei war über Katwarn vom LfU bereits um 17.17 Uhr die höchste Warnkategorie „Extreme Gefahr“ (lila) ausgelöst worden. Dort hieß es unter anderem: „ACHTUNG: An der Ahr und ihren Zuflüssen ist die Hochwassergefahr sehr groß. Innerhalb der nächsten 24 Stunden ist mit Sturzfluten und Überflutungen zu rechnen. Erdrutsche sind möglich.“

Die Kreisverwaltung Ahrweiler wollte die Berichte über mangelnde Kommunikation in der Flutnacht am Sonntag auf Anfrage der Deutschen Presse-Agentur nicht kommentieren und verwies auf einen späteren Zeitpunkt. „Oberste Priorität hat für den Kreis und Landrat Jürgen Pföhler, die Versorgung der Menschen im Flutgebiet wiederherzustellen“, hieß es.

Unterdessen wächst auch der Unmut unter den Hilfsorganisationen und freiwilligen Helfern, die zwei Wochen nach der Flutnacht noch eine mangelnde Koordination im Krisengebiet beklagen. Im Fokus der Kritik steht dabei der Krisenstab der Trierer Aufsichtsbehörde ADD, die wenige Tage nach der Flutkatastrophe die Einsatzleitung vom Kreis Ahrweiler übernommen hatte. „Warum steht bis heute noch nicht bei jedem Bürgermeister und Ortsvorsteher ein Einsatzleitwagen mit Kontakt zum Krisenstab?“, fragte etwa ein erfahrener Krisenmanager. Ein Lichtblick im Flutdesaster: Am Samstag wurde eine vom THW errichtete Behelfsbrücke in Bad Neuenahr fertiggestellt.

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