"Ich habe solche Angst vor Wellen"

TRIER. Vor einem Jahr verlor die Triererin Razlina Reichardt Binti M. Alizar bei der Flutkatastrophe rund um den Indischen Ozean 30 Angehörige. Unter den Opfern: Razlinas Bruder und Schwester mit ihren Familien. Ob ihre Leichen gefunden und beigesetzt wurden, weiß niemand.

Wenn Razlina Reichardt in diesen Tagen das Fernsehen einschaltet oder die Zeitung liest, kommt der Schmerz in ihr wieder hoch. Fast auf den Tag genau ein Jahr ist es her, dass die seit 15 Jahren mit ihrem Ehemann in Trier lebende Mutter zweier Töchter auf einen Schlag 30 Angehörige verloren hat. Razlina Reichardt stammt aus der Provinz Aceh im Norden der Insel Sumatra, eine Region, in der das Seebeben und die anschließende Flutwelle besonders viele Opfer forderten. Allein in der Provinzhauptstadt Banda Aceh starben nach Angaben der indonesischen Behörden über 30 000 Menschen.In der Gegend um Banda Aceh lebten auch zwei der Geschwister von Razlina Reichardt, der 52-jährige Bruder mit Frau und drei Kindern und Razlinas 43 Jahre alte Schwester, ebenfalls mit Mann und den beiden Söhnen. Die Flutkatastrophe überlebt hat nur der heute 18-jährige Sohn von Razlinas Lieblingsschwester, weil er nicht zu Hause war, als die Monsterwelle kam. Vom Rest der Familie fanden Angehörige später keine Spur mehr. Selbst das in Küstennähe stehende Haus war komplett weggespült.

Ob die Leichen ihrer Geschwister und Angehörigen je gefunden wurden, weiß Razlina Reichardt nicht. "Bei uns war wegen des jahrelangen Bürgerkriegs im Gegensatz etwa zu Thailand ja kein Tourismus", sagt die 41-Jährige. Und damit auch keine ausländischen Gerichtsmediziner, die die aufgefundenen Leichen per DNA-Analyse identifiziert hätten. "Die Toten wurden alle anonym in Massengräbern beigesetzt."

Doch auch in der Krisenregion Aceh kam internationale Hilfe an. Australien baute Krankenhäuser wieder auf, die Türkei Schulen, und auch Deutschland initiierte ein millionenschweres Wiederaufbauprogramm. "Die Leute bei uns wissen, dass die Deutschen sehr hilfsbereit sind", sagt Razlina Reichardt. Eine Erfahrung, die die 41-Jährige auch selbst gemacht hat.

Einige spendeten Geld, andere tröstende Worte

Als der "Trierische Volksfreund" Anfang des Jahres über Razlina und das damals noch ungewisse Schicksal ihrer Angehörigen berichtete, melden sich spontan viele Leserinnen und Leser, aber auch Vereine, Schulen und Kindergärten und boten Hilfe an.

Einige spendeten Geld, andere tröstende Worte. "Das Geld habe ich an die Verwandten geschickt, die bei der Flutkatastrophe alles verloren haben", sagt Reichardt und zeigt zum Beweis einen Ordner mit Überweisungsquittungen. "Die meisten haben davon Kleidung und Essen gekauft."

Anderen Angehörigen half Razlina beim Aufbau einer neuen Existenz. So griff sie einem Cousin finanziell unter die Arme, der sich ein Motorradtaxi kaufen wollte. Einem Neffen, dem einzig Überlebenden aus der Familie von Razlinas Lieblingsschwester, schickte sie Geld fürs Studium.

Finanzielle Unterstützung bekam auch Razlinas im Süden Acehs lebende 65-jährige Mutter, die ihrerseits Witwen und Waisen half. "Meine Familie und ich sind allen Spendern unendlich dankbar", sagt die Triererin.

Und Razlina selbst - wie hat sie den Verlust so vieler Angehöriger und Freunde verkraftet? "Es ist immer noch schwer", sagt die gebürtige Indonesierin. Ihr Arzt hat der halbtags in einem Trierer Altenheim als Hauswirtschafterin arbeitenden Frau in diesem Jahr eine Mutter-Kind-Kur verschrieben. Drei Wochen war Razlina im August mit ihren beiden Töchtern Kartini und Anisa an der Ostsee. "Das hat sehr gut getan", sagt sie rückblickend.

Nur am ersten Tag fing Razlina plötzlich an zu zittern - als sie mit ihren beiden Mädels zum Strand ging und die Ostsee sah. Da kam die Erinnerung wieder hoch: "Ich hatte solche Angst vor den Wellen." Mit dem Meer wird sich Razlina wohl nie mehr anfreunden können.

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