In ganz schlechtem Zustand
TRIER. Die Urteilsfindung dauerte nicht annähernd so lange wie die Verlesung der Anklageschrift. Eine Verfahrens-Absprache, im Volksmund "Deal" genannt, beendete einen Prozess, der ansonsten wohl ein weiteres Jahr in Anspruch genommen hätte. Dabei mussten alle Beteiligten Abstriche machen.
Braucht dieser Angeklagte eigentlich noch eine Strafe? Vor zehn Jahren, als die Fälle passierten, die hier zur Verhandlung anstehen, war Dr. Wolfgang S. ganz oben. Ein Star-Operateur, auf dessen Bandscheiben-Behandlungen die Patienten schworen. Ein von seinen Fähigkeiten restlos überzeugter Chirurg, viel zu groß für die kleine Welt der Gebührenordnungen, auf dem Weg zu ärztlicher Allmacht und zusammengeschnippeltem Reichtum. Als er im Januar 2004 erstmals auf der Trierer Anklagebank Platz nehmen musste, war jeder Faser seines Gesichts, jeder Facette seiner Körpersprache anzusehen, wie lächerlich er es fand, sich vor einem Gericht verantworten zu müssen, wegen so profaner Dinge wie Fahrtkosten und Gebühren. Und jetzt? Da sitzt ein abgemagerter Mann mit grotesker Frisur, miserabel gekleidet, vor sich ein Gefängnis-Fresspaket und einen riesigen Stapel Pillenschachteln. Zermürbt vom "Krieg" mit dem Gefängnispersonal, wie es kürzlich bei einer Verhandlung hieß. Mitgenommen vom "Haftkoller", wie der Vorsitzende Richter vermutet. "Menschlich und wirtschaftlich ruiniert", wie sein Verteidiger sagt. "In ganz schlechtem Gesundheitszustand", wie selbst der Staatsanwalt feststellt. Das Verfahren ist geradezu prädestiniert für einen "Deal". 150 Zeugen stehen noch auf der Warteliste, monatelange Beschäftigung für eine heillos überforderte Justiz. Die Öffentlichkeit habe wenig Verständnis dafür, wenn man sich angesichts dringender aktueller Verfahren noch lange mit derart "altem Käse" aufhalte, sagt Richter Jörn Schlottmann in seinem zornigen Schlusswort. Er meint es nicht so. Was er meint, ist, dass es eigentlich nötig wäre, auch solche Verfahren gründlich bis zu Ende zu führen, dass aber der schrumpfende Personalstand der Justiz solcherlei Gründlichkeit nicht mehr zulässt. So kommt es, dass er etliche Anklagepunkte einstellt, obwohl er noch Zweifel hat. So etwas wird immer mehr gängige Praxis in der Justiz. Das stinkt vielen, aber sagen kann es nur einer wie Schlottmann, für den es das letzte große Verfahren vor dem Ruhestand ist. Früher, so schimpft er bei der Urteilsbegründung, hätte man für derart umfangreiche Fälle eine zusätzliche Kammer eingerichtet. Das gehe heute nicht mehr. So sei das eben, wenn alle "den schlanken Staat wollen". Das Urteil seiner Kammer hält er im Ergebnis gleichwohl für vertretbar. Zu Recht. Wolfgang S. ist kein Schwerverbrecher, darauf hat sein Verteidiger Günther Maximini im Plädoyer eindringlich hingewiesen. In anderen, weit gravierenderen Fällen habe die Justiz Milde walten lassen, "nur weil der Angeklagte gut Tennis spielen konnte". Den Boris-Becker-Rabatt fordert er nun für seinen Mandanten ein. Auch Staatsanwalt Peter Fritzen lässt die verbale Keule außen vor, ohne freilich den Schuldvorwurf kleinzureden. "Sie haben ihre Patienten schlicht und ergreifend getäuscht", sagt er, "und sie wollten es auch so." Das muss auch Wolfgang S. einräumen, wenn die Absprache funktionieren soll. Es fällt ihm schwer. Er eiert herum, will sich um ein klares Schuldbekenntnis herummogeln. Das Gericht und der Staatsanwalt bohren nach, irgendwann murmelt er dann "Ja, ich räume es ein". Er will halt raus aus diesem Alptraum, aber so ganz nach Einsicht klingt es nicht. Doch für das Gericht reicht es. Und eine Gefahr für die Rechtsordnung, da ist sich Richter Schlottmann sicher, geht von diesem Angeklagten wohl nicht mehr aus. Bestraft ist er längst. Jetzt hat er die Chance zur Bewährung.