Jahrgang 1918: Erinnerungen an das Kriegsende

"Trotz ihrer fast 97 Jahre ist es ihr eine Herzensangelegenheit, vor dem Kriegsgrauen zu warnen", schreibt Magdalene Faschin aus Prüm zu den aufgezeichneten Erinnerungen ihrer Mutter an das Kriegsende in Wittenberge an der Elbe. Hier der Bericht:

Mit meiner 2-jährigen Tochter lebte ich bei meinen Schwiegereltern in Wittenberge an der Elbe. Tagelang wurden wir vom gegenüberliegenden Ufer der Elbe von amerikanischen Truppen beschossen. Es gab viele Tote und verletzte Menschen und Häuserschäden. Die Russen kamen aus der Richtung Berlin. Sie schlossen uns ein, umzingelten uns. Sie forderten, dass die Stadt sich ergibt.

So geschah es. Wie ein Lauffeuer ging es durch die Stadt. Alle Bewohner sollten ein weißes Laken oder Tuch aus dem Fenster hängen. Um 6.00 Uhr früh zogen die Russen ein. Durch unsere Straße zog ein Reitertrupp: Kosaken, Männer und Frauen. Auf einem Bauernhof gegenüber von unserer Wohnung nahmen sie Quatier. Es war reichlich Platz für Mensch und Tier: Scheunen, Ställe, 2 Wohnhäuser. Der Besitzer musste raus.

Die Plünderung fing an. Im Nachbarhaus war eine Wohnung frei. Flüchtlinge aus Ostpreußen hatte man da einquartiert: 5 Erwachsene und 9 Kinder. Diesen Menschen war ich sehr behilflich. Ich habe mir Zöpfe geflochten und bin mit meiner Tochter zum Schlafen zu ihnen gegangen. Wir lagen alle auf dem Fußboden, als es gegen Abend wild an der Haustür klopfte. Mit Gewehrkolben schlugen sie dagegen. Der Großvater, der gut russisch sprach, öffnete und zeigte uns und schilderte seine und unsere Lage. Er sagte auch, dass eine Tochter, Mutter von 4 Kindern, von den Amerikanern, die uns beschossen hatten, durch einen Granatsplitter getroffen und tot sei. Die 4 Soldaten beruhigten sich und zogen - Gott sei Dank - weiter. Drei Tage durften sie vergewaltigen und plündern. Am anderen Tag kamen 2 Kosaken wieder und brachten Kartoffeln und Lebensmittel und Wäsche mit. Sie baten die 2. Tochter, die Wäsche zu waschen, und zeigten sich erkenntlich. Ich war gerettet!

Aber die Plünderung und Vergewaltigung ging weiter. Wir wurden nicht mehr belästigt. Es war furchtbar: Die Unruhe, die Einbrüche und Plünderungen und Vergewaltigungen gingen weiter, und die Schreie der Menschen hörten nicht auf. Viele nahmen sich das Leben, auch Freunde von uns. Mein Schwiegervater wurde eingesperrt. Er war Lehrer und wurde zuvor aus seinem Amt entlassen. Er war aber kein NS-Parteimitglied, darüber hatte er ein amtliches Schreiben. Das nutzte ich aus. Ein Körbchen mit Schnaps und Rauchware und dem amtlichen Schein, damit ging ich in die Höhle des Löwen. Ich kam durch die bewachten Kontrollen bis zum Kommandanten. Er bekam den Schein und hörte mich an. Einige Tage später war mein Schwiegervater frei. Andernfalls wäre er nach Sibirien gekommen.

Auf die Straße konnte man nicht gehen, um etwas zum Essen zu besorgen. Man wurde von Russen aufgegriffen und musste mit, um sauber zu machen, manchmal auch zum Feiern. Mir ist das passiert. Das war gefährlich, denn plötzlich sagte der Offizier: "Bringt mir die Frau!". Ein junger Russe sagte mir: "Sping aus dem Fenster, dann bist du weg!" Es klappte. Auch wurde ich ein Mal von Pferden und Reitern umzingelt und sollte mit, aber ich lief unter den Pferden durch und war weg. Wir versteckten Soldaten in unserem Haus, die fliehen wollten, weil sie nicht in russische Gefangenschaft geraten wollten. Auch das klappte.

Handschriftliche Erinnerungen, aufgezeichnet von Magdalene Faschin, Prüm

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