Jeden Tag eine neue Rechtslage

TRIER. Würde man auf dem Hauptmarkt eine spontane Umfrage nach dem Sitz des Sozialgerichts starten, stieße man wahrscheinlich auf geballte Ratlosigkeit. Doch die Fälle, die in der Dietrichstraße verhandelt werden, können jeden Bürger betreffen.

 Trotz aller Computer: In der Trierer Justiz ist das große Aktenlager immer noch unentbehrlich.Foto: Friedemann Vetter

Trotz aller Computer: In der Trierer Justiz ist das große Aktenlager immer noch unentbehrlich.Foto: Friedemann Vetter

Zum Beispiel Kathrin Krüger (Name geändert). Die Krankenschwester war 1996 auf dem Weg von der Schicht nach Hause, als ein Auto auf ihren PKW fuhr. Ein kleiner Unfall, nicht einmal die Polizei wurde eingeschaltet. Doch seither hat sie Probleme mit der Wirbelsäule, kann nur noch eingeschränkt arbeiten. Seit 1997 kämpft sie mit der Berufsgenossenschaft um die Anerkennung einer dauerhaften Erwerbsminderung. Gutachten hin, Gutachten her, keine Einigung. Der Fall landete beim Sozialgericht, beschäftigte weitere fünf Sachverständige, erzeugte wahre Aktenberge. Nun soll Richter Jürgen Olk die Sache entscheiden. Der Fall Krüger ist einer von sieben, die an diesem Morgen auf Olks Agenda stehen. Der promovierte Jurist hält zwei bis drei Sitzungen pro Woche ab, rund 350 Fälle pro Jahr wollen erledigt werden. Zwei Stunden sind heute eingeplant, macht eine gute Viertelstunde pro Fall - wenig Zeit für die oft horrenden Summen, über die hier entschieden wird. Aber die mündliche Verhandlung spielt meistens keine dominierende Rolle mehr, weil durch Gutachten und Aktenlage in vielen Fällen klar ist, in welche Richtung es geht. Trotzdem: Der Auftritt der Beteiligten ist Jürgen Olk wichtig, "damit wir das Ziel der Gerechtigkeit nicht aus den Augen verlieren". Der Kreis derer, die hoffen, von Olk und seinen beiden Laien-Beisitzern Recht zu bekommen, ist vielfältig. Wer einen Rechtsstreit mit Arbeitsamt oder Berufsgenossenschaft führt, wer um Rentenansprüche prozessiert, wer um seine Anerkennung als Schwerbehinderter streitet oder Ärger mit Unfallfolgen hat, der landet bei Olk und seinen fünf Kollegen. Das Sozialgericht gehört weder zum Land- noch zum Verwaltungsgericht, es ist eigenständig und direkt dem Landesjustizministerium unterstellt - bisher jedenfalls, doch man munkelt in letzter Zeit oft von Reformplänen. Über einen Mangel an Arbeit kann sich das Gericht jedenfalls nicht beklagen. Eher schon über den Umstand, dass die Rechtslage, nach der geurteilt wird, in den letzten Jahren permanent wechselt. Während bei Straf- und Zivilrecht schon gelegentliche Reformen als Bruch in der Kontinuität misstrauisch beäugt werden, muss Jürgen Olk tagesaktuell herausfinden, "was im Moment überhaupt gilt". Die Sozialgerichte müssten "mit einer extremen Halbwertszeit zurechtkommen", sagt er. Hartz 1/2/3, Agenda 2010: Jedesmal ändert sich die Geschäftsgrundlage. So wächst auch bei den Klienten des Gerichts die Tendenz, einen versierten Rechtsbeistand hinzuzuziehen. Teilweise sind es Anwälte, teilweise Vetreter von Gewerkschaften und Sozialverbänden, die den Klägern juristischen Rat liefern. Einen Anwaltszwang gibt es in dieser Instanz nicht. Dennoch ist nur ein junger Mann an diesem Morgen alleine gekommen. Das Arbeitsamt hat ihm drei Wochen das Arbeitslosengeld gesperrt, weil er einen vermittelten Job durch eigenes Verhalten verpatzt haben soll. Ausführlich erklärt er, warum die Einstellung als Fliesenleger nicht zustande kam, und dass er nicht daran schuld sei. Die Kammer glaubt ihm, die Sperre wird aufgehoben. Keine Rente für den Tritt der Kuh

Kathrin Krüger hat mit ihrer Klage weniger Glück. Das entscheidende Gutachten besagt, der Unfallverursacher sei beim Aufprall maximal 10 km/h gefahren, die Schäden an der Wirbelsäule könnten also keinesfalls vom Unfall stammen. "Was soll es denn sonst gewesen sein", schimpft ihr Ehemann leise auf der Zuschauerbank. Doch das Gericht hält sich an den Gutachter und weist die Klage ab. Ebenso wenig Glück hat die Landwirtin aus der Eifel, die wegen eines Kuhtritts gegen das linke Knie eine Verletztenrente fordert. Die Attacke durch das renitente Rindvieh fand bereits im Jahr 1986 statt, die angebliche Folgeverletzung wurde aber erst 1999 diagnostiziert. Die Berufsgenossenschaft führt den inzwischen aufgetretenen Meniskusschaden auf altersbedingte Verschleißerscheinungen zurück, der vom Gericht bestellte Gutachter schließt sich dem Votum an. Die Klage wird nach kurzer Beratung abgelehnt. Keine Chance auch für den Maurermeister, der seinen Bandscheibenschaden als Berufskrankheit "durchkriegen" will. Akribisch wird nach wissenschaftlichen Modellen berechnet, wieviel Newton Belastung pro Bandscheibe im Laufe der Jahre angefallen sind - nicht genug, auch wenn die engagierte Jung-Anwältin zäh für ihren Mandanten kämpft. Um die 20 Prozent liegt die Erfolgsquote für Klagen beim Trierer Sozialgericht. Das klingt nach nicht viel, ist aber beachtlich, wenn man weiß, dass in der Regel Privatpersonen gegen große Institutionen klagen, die die Ansprüche ausführlich juristisch geprüft haben. Bei einem Streitwert von mehr als 500 Euro ist eine Berufung beim Landessozialgericht zulässig. Was die Dauer des Rechtswegs allerdings verlängert, bei meist mäßigen Erfolgsaussichten. Dennoch: Nicht wenige verlassen erleichtert das Gerichtsgebäude. So wie die Frau, die bei anerkannter Erwerbsunfähigkeit auf einen amtlichen Rentenbescheid wartete und derweil weiter Arbeitslosenhilfe bezog. Formal hätte sie für die Übergangszeit aufs Sozialamt gehen müssen, was sie nicht wusste. Die Bundesagentur will das Geld zurück. Da aber spielt die Kammer nicht mit. Nur bei "grober Fahrlässigkeit" müsste die Frau zahlen. Die, sagt Richter Olk, "können wir hier nicht erkennen".

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