Kein Gedanke mehr ans Scheitern

Trier · Am Samstag in einer Woche ist für die Sozialdemokraten Tag der Wahrheit: Dann wird die parteiinterne Abstimmung über den schwarz-roten Koalitionsvertrag ausgezählt. Dass das Bündnis auf der Zielgeraden noch scheitern könnte, glauben in der SPD inzwischen nur noch wenige.

Trier. Als sich die Bitburger Genossen vor einem Monat über ein mögliches schwarz-rotes Bündnis unterhielten, war das Stimmungsbild eindeutig: Drei viertel der anwesenden Parteimitglieder zeigten mit dem Daumen nach unten. Keine Koalition mit der Union - um keinen Preis der Welt. Ein paar Wochen und Appelle der Parteiführung später hat sich das Bild gewandelt. Nicht nur in Bitburg. Aus der überwiegend skeptischen bis ablehnenden Haltung in weiten Teilen der SPD ist verhaltene bis eindeutige Zustimmung geworden. "Ich werde für den Koalitionsvertrag stimmen - wenn auch mit Bauchschmerzen", sagt etwa der Bitburger SPD-Fraktionschef Stephan Garçon.
"Das sind doch Pfunde"


Ähnlich äußert sich auch der Altvordere Hans Jacobs, für den es nach eigenen Angaben bis vor wenigen Tagen noch undenkbar schien, für eine Neuauflage der großen Koalition zu stimmen. "Inzwischen, nach Lektüre des Koalitionsvertrags", räumt er ein, habe er seine Meinung geändert: "Das sind doch Pfunde, die von den Sozialdemokraten erreicht worden sind."
Die Pfunde, von denen nicht nur der Bitburger Sozialdemokrat Hans Jakobs spricht, sind Themen wie Mindestlohn oder die abschlagsfreie Rente nach 45 Versicherungsjahren. Themen, für die sich SPD-Chef Sigmar Gabriel und seine Unterhändler bei den Koalitionsverhandlungen mit der Union erfolgreich eingesetzt haben. "Ich werde für den Koalitionsvertrag stimmen, weil er zur sozialen Gerechtigkeit beiträgt", sagen unisono auch die Bitburger SPD-Vorsitzende Sigrid Steffen und ihr Bernkastel-Kueser Kollege Axel Weber. Und auch der Trierer Obergenosse Sven Teuber und Jens Jenssen, SPD-Fraktionsvorsitzender im Kreistag Vulkaneifel, befürworten den Koalitionsvertrag. Dabei gab es nach der Bundestagswahl im September nicht wenige in der Partei, die von einer Neuauflage der großen Koalition nichts wissen wollten. "Die haben sich noch alle an die letzte große Koalition erinnert", sagt der Bitburger SPD-Funktionär Stephan Garçon, "da war Merkel die große Gewinnerin und wir die Verlierer." Ein Trauma, das kein Genosse noch einmal erleiden wolle, sagt Garçon.
Wo aber sind sie inzwischen geblieben, die Groko-Skeptiker (Groko = große Koalition) innerhalb der SPD? Einer, der seine Meinung auch nach der Lektüre des allen 475 000 SPD-Mitgliedern zugesandten Koalitionsvertrags nicht geändert hat, ist Johannes Gorges aus Osburg (Kreis Trier-Saarburg). "Aufgrund der mangelhaften Umsetzung unserer inhaltlichen Forderungen können wir dem Koalitionsvertrag nicht zustimmen", sagt Gorges, der auch stellvertretender Vorsitzender der rheinland-pfälzische SPD-Jugendorganisation Jusos ist. Der 24-Jährige kritisiert, dass etwa das Thema Steuergerechtigkeit in dem Vertrag keine Rolle spiele. "Wir brauchen höhere Steuereinnahmen, um mehr in Bildung oder die Infrastruktur zu investieren", sagt der Juso-Landesvize. Eine Position, die auch von anderen Juso-Landesverbänden geteilt wird. Ob deren Mitglieder aber deswegen auch automatisch gegen den Koalitionsvertrag stimmen, steht auf einem anderen Blatt Papier.
Wer sich in diesen Tagen mit SPD-Funktionären unterhält, wird kaum jemanden finden, der die endgültige Unterzeichnung infrage stellt. Sicherheitshalber hat nach dem Bundesvorstand am Dienstagabend auch noch der rheinland-pfälzische SPD-Vorstand den Mitgliedern empfohlen, für den Koalitionsvertrag zu stimmen. Die SPD habe sich in vielen zentralen Punkten durchsetzen können, lobte SPD-Landeschef Roger Lewentz den 185 Seiten starken Vertrag (siehe Interview unten). Nur der rheinland-pfälzische CDU-Generalsekretär Patrick Schnieder konnte sich das Lästern nicht verkneifen. Er habe den Koalitionsvertrag durch den Wahlomaten geschickt, schrieb der Eifeler Zwei-Meter-Mann im Internet. Das Ergebnis: Die meisten Inhalte stimmten mit dem Wahlprogramm der CDU überein, die Union habe sich durchgesetzt.Extra

Drohanrufe eines Unbekannten: SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles hat entsetzt auf Drohanrufe bei SPD-Mitgliedern reagiert, die sich kritisch zur großen Koalition geäußert haben. Nahles verurteilte das Vorgehen als "kriminellen Akt". "In der SPD gibt es keinen Platz für Drohanrufe." Die Parteizentrale prüft nach ihren Angaben nun eine Anzeige gegen unbekannt. Kritische SPD-Mitglieder hatten in den vergangenen Tagen Anrufe von einem Mann erhalten, der sich als Mitarbeiter von Nahles (Foto: dpa) ausgegeben hatte. Am Telefon drohte er ihnen Konsequenzen für ihre Karriere an, falls sie bei der Mitgliederbefragung über die große Koalition mit Nein stimmen sollten. SPD-Sprecher Tobias Dünow bestätigte nur einen Fall. Nach Informationen von Zeit online wurden am Dienstag aber mehrere Juso-Mitglieder unter einer Telefonnummer des Berliner SPD-Bundesvorstandes angerufen. Wer der Mann war und wie ihm dies gelingen konnte, ist bislang völlig unklar. In der SPD-Zentrale wird es für unwahrscheinlich gehalten, dass sich der Anrufer in das Telefonsystem des Willy-Brandt-Hauses gehackt hat. Damit müsste die Nummer des Parteivorstandes, die bei den Anrufen zu sehen war, durch eine andere technische Manipulation auf dem Display erschienen sein. Nahles sprach von einem kriminellen Versuch, der SPD zu schaden. dpaExtra

Die SPD-Mitgliederbefragung ist in der deutschen Geschichte ohne Beispiel. Wahlberechtigt sind 474 820 Mitglieder. Die Kosten der Befragung liegen bei weit über eine Million Euro. Per Sonderausgabe der SPD-Zeitung Vorwärts haben alle Mitglieder den Koalitionsvertrag bekommen. Von heute an bis zum 12. Dezember kann per Briefwahl abgestimmt werden. Am 13. Dezember werden alle zurückgesandten Abstimmungsbriefe zu einer gemieteten Halle in Berlin gebracht. Zur Öffnung wurden "Hochleistungsschlitzmaschinen" angeschafft, die 20 000 Briefumschläge pro Stunde öffnen können. 400 Helfer sollen die Partei bei der Auszählung am Samstag nächster Woche unterstützen, abends soll das Ergebnis feststehen. Mindestens 20 Prozent der Mitglieder müssen sich beteiligen, damit der Entscheid gültig ist. Sonst muss ein Sonderparteitag einberufen werden. dpa

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