Kriegsende 1945 in Mähren

Einen Bericht aus Südmähren, Teil des Sudetenlandes der damaligen Tschechoslowakiei, hat Günter Kaschl aus Trier verfasst. Er basiert auf eigenem Erleben und Aufzeichnungen seiner Mutter.

Günter Kaschl schreib: "Vielleicht kann auch die Erinnerung daran, dass unser Land schon einmal eine Flüchtlingskathastrophe erfolgreich gemeistert hat, und Flüchtlinge wesentlich zum Wiederaufbau beigetragen haben, Verständnis für das gegenwärtige Flüchtlingselend wecken." Hier sein Bericht:

Kriegsende 1945 in Mähren
Meine Heimat Pausram liegt in Südmähren zwischen Wien und der mährischen Hauptstadt Brünn. Im Spätherbst 1944 ziehen Flüchtlingstrecks von Siebenbürger Schwaben, später von Ungarndeutschen durch den Ort. Sie lassen manchen mit Bangen in die Zukunft schauen.

Mein Bruder ist nach einer Verwundung in Wien stationiert, mein Vater befehligt eine Kompanie an der russischen Front in Ungarn. Im Zivilberuf Lehrer und Schulleiter muss er schon die dritte Uniform tragen: im ersten Krieg die kaiserlich-österreichische, dann die tschechoslowakische, jetzt die der großdeutschen Wehrmacht. An Heiligabend 1944 muss meine zwanzigjährige Schwester als Wehrmachtshelferin an die polnische Front abreisen. Sie wurde zum Kriegsdienst genötigt.

Wenige Tage später bringt mein Vater die Schreckensnachricht: mein Bruder ist bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen - an seinem 19. Geburtstag. Vater hat ihn selbst identifizieren müssen. Er wird dann heimatnah auf der Festung Spilberk in Brünn stationiert. Im April 45, zwei Tage vor den Russen, kommt er nachts auf Kurzbesuch, rät von Flucht ab: "der Russe holt Euch überall ein."
Aus Aufzeichnungen meiner Mutter: " … Die Front kam immer näher. … Wir richteten … uns in einem … Keller ein: ca. 30 Personen. … Da hörten wir über uns Pferdegetrappel. Die Russen waren da. … Als wir am nächsten Morgen die Türe aufmachten, kamen Frauen angerannt und suchten verzweifelt Schutz bei uns. Mehrere waren vergewaltigt worden. Es wurden immer mehr, sodass wir fast keine Luft mehr bekamen. …

Die Schule, und damit auch unsere Wohnung, ist jetzt russische Kommandantur. Wir werden die Wohnung nicht mehr betreten. Unsere Möbel samt Inhalt finden wir im Schulgarten aus dem ersten Stock geworfen. Dem Flügel waren die Beine abgeschlagen worden, damit er durch das Fenster passte. Meine Mutter kann einige Kleidung und Dokumente retten. Jetzt wohnen wir bei meiner Großmutter und Tante.
"Weil meine Mutter Kleintiere hatte, mussten wir es wagen, den Keller zu verlassen. Als wir ankamen, war das Haus voller Russen. … Der Offizier, ein Professor aus Moskau, verlangte nur Quartier. … Am Abend wollten wir zurück in den Keller, er ließ uns aber nicht: "Bei mir sind Sie sicher." … War er nicht zu Hause, stellte er einen Posten vor die Türe. Er war ein guter Mensch. Als er abrückte, schenkte er mir einen Blumenstrauß."

Davor gibt es am 9. Mai eine pompöse Siegesfeier auf dem Dorfplatz mit einem wilden Triumphschießen, bei der die Bevölkerung zuschauen muss, dann großes Besäufnis in den Weinkellern. Frauen werden vergewaltigt. Eine Mutter hat aus Angst ihre Tochter eingemauert. Die Russen ziehen ab. Eine Partisanen-Junta übernimmt das Regiment.
"Aber da ging es erst richtig los. Was die Russen übrig gelassen hatten, das holten sich die Tschechen. … Eines Tages kamen die Partisanen und holten mich zur Zwangsarbeit. … Alle 22 Frauen in einem Zimmer. Es war leer. … Zu essen bekamen wir nichts. … Einige Frauen hatten Brot, die teilten natürlich. Abends hörten wir die Schreie der Männer. Am 8. Tag …"

Die Junta lässt plakatieren: "Schlagt die Deutschen, wo ihr sie trefft. Denkt an Lidice!" Deutsche müssen ein Armbinde mit einem großen N tragen: Nemci - Deutscher.

Per Dekret werden die Deutschen enteignet. Glückritter suchen sich Häuser aus, lassen sich bei der Junta als neue Eigentümer registrieren, vertreiben die bisherigen Besitzer. "Da standen drei Partisanen vor der Tür und besetzten das Haus. Wir erschraken sehr. … Aber sie waren nicht so schlimm. … Der neue Eigentümer - 20 Jahre alt - wollte gut essen. Ich sagte, ich habe nichts. Da ging er wieder, etwas zusammen zu stehlen. So ging das den ganzen Sommer.
Im August verkünden die Alliierten die "Potsdamer Deklaration über den geordneten und humanen Transfer der Deutschen, die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgeblieben sind".

Die Junta lässt bekannt machen: "Bis zum Freitag darf keine deutsche Haxe mehr in Pouzdrany sein. Wer dann noch da ist, kommt in ein Konzentrationslager."

Menschen werden gefangen, auf Lastwagen ins Innere der Tschechei verschleppt. Terror soll die Deutschen dazu veranlassen, zu verschwinden. Ein Tscheche vertraut Mutter an, wir ständen auf der "Liste". Es ist Oktober.
Wir, meine Mutter, Großmutter, Tante und ich packen das Nötigste auf einen Handwagen, und brechen um Mitternacht zur österreichischen Grenze auf, überschreiten sie im Morgengrauen ohne Probleme, denn die Grenzer schlafen noch. Dann sitzen wir erschöpft, erleichtert und ratlos im Straßengraben. Wohin? Wir schlagen uns nach Wien durch, überleben den Hungerwinter. Im Mai 1946 bringt uns ein Flüchtlingstransport nach Schwaben. 40 Personen mit all ihrer Habe leben zwei Wochen in einem Viehwaggon. Es ist wunderbar, es gibt genügend zu essen.

Bald erfahren wir: meine Schwester hat überlebt, aber mein Vater ist in Brünn gefallen - nur zwei Kilometer entfernt von der Kirche, in der meine Eltern 22 Jahre früher getraut worden waren. Mühlhausen an der Enz wird unser neues Zuhause. Nicht alle sind über uns "25-Kilo-Zigäuner" erfreut. Aber wir finden auch verständnisvolle Menschen, die uns über die schlimmste Not helfen, obwohl auch viele Einheimische Not leiden.

Heute leiden wieder Flüchtlinge. Lasst uns hoffen, dass auch sie Hilfe und Verständnis finden. Günter Kaschl

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