Landeier und Stadtstreuner

TRIER/MÜNCHEN. Noch bis weit ins zweite Jahrtausend unterschied sich eine Kindheit auf dem Lande deutlich von der in der Stadt. Lebten die "Landeier" in einem überwiegend bäuerlich geprägten Umfeld, so fristeten die "Stadtstreuner" ein Dasein zwischen Mietskaserne und Straße. Doch wie sieht es heute aus?

Der Familienatlas des Prognos-Instituts zeigt es: Viele Familien ziehen auf das Land, weil sie dort ein besseres Wohnumfeld für ihre Kinder finden (der TV berichtete). Aber unterscheiden sich Stadtkinder von Landkindern? "Ja", behauptet Soziologe Christian Alt. Er leitet das Kinderpanel des Deutschen Jugendinstituts in München, das untersucht, unter welchen Rahmenbedingungen Kinder in Deutschland aufwachsen. "Kinder in der Stadt werden im Vorschulalter zunehmend ganztägig und durch Institutionen betreut, Kinder auf dem Land hingegen halbtags von Familienangehörigen." Der Grund dafür liegt im gesellschaftlichen Wandel, der sich in der Stadt schneller vollzieht als auf dem Land. "In den städtischen Zentren sind andere Lebensformen auf dem Vormarsch: Kinder wachsen bei Alleinerziehenden, bei Vollzeitberufstätigen oder in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften auf. Auf dem Land, wo die soziale Kontrolle größer ist, überwiegt die traditionelle Familienstruktur", erklärt Christian Alt. Im Übergangsbereich von Stadt zu Land liegen die so genannten "Speckgürtel", Pendlerregionen mit Kleinfamilien, die meist vom Einkommen eines Hauptverdieners leben. Dort betreuen die Mütter ihre Kinder selbst oder nutzen den klassischen Halbtagskindergarten. Die Ansprüche von Eltern an die Vorschulbetreuung hängt stark vom Bildungsniveau ab, das in der Stadt höher ist als auf dem Land. "Gebildete Mütter wollen, dass ihre Kinder, die bereits zu Hause Sprach- und Bildungskompetenzen erwerben, in Krabbelgruppe oder Kindergarten Kontakte knüpfen und soziale Fähigkeiten ausbilden. Die anderen erwarten eine Vorbereitung auf die Schule", hat Alt in einer Umfrage festgestellt. Bereits in diesem Punkt wird deutlich, dass nicht nur das städtische oder ländliche Umfeld, sondern auch die Schichtzugehörigkeit der Eltern Auswirkungen auf den Verlauf einer Kindheit hat. Je höher die Schicht, desto niedriger ist beispielsweise die Anzahl der Freunde eines Kindes. Seine Freizeit ist meist mit Sport- oder Musikangeboten durchorganisiert, von denen es in der Stadt natürlich eine größere und anonymere Auswahl gibt. Oft sitzt das Kind auch allein oder mit nur einem befreundeten Kind vor dem PC. Sowohl Stadt- als auch Landkinder sind fit im Umgang mit neuen Technologien und kennen sich in der Medienwelt aus, sofern genug Geld vorhanden ist, um ihnen den Zugang zu ermöglichen. Jugendliche aus niedrigeren Schichten orientieren sich mangels Platz und Geld oft nach außen und bilden Cliquen. "Die ökonomische Situation kommt dann zum Tragen, wenn eine Familie nur bis zu 60 Prozent des Durchschnittseinkommens (2480 Euro pro Familie mit zwei Kindern) hat. Bis zu diesem Punkt versuchen die Eltern noch das Defizit auszugleichen", sagt Christian Alt. Besonders gravierend wirke sich wirtschaftliche Not auf die Wohnsituation aus, wobei ein deutliches Land-Stadt-Gefälle auszumachen sei: "Städtischer Wohnraum ist für Familien fast unbezahlbar." Ein Drittel aller Kinder, vor allem in Großstädten oder im Osten, wohnt in nicht ausreichenden Bedingungen, das heißt beengt, ohne eigenes Zimmer, belästigt von Lärm, Verkehr und Luftverschmutzung. Ein anderes Drittel der Kinder in kleinen und mittelständischen Bereichen hingegen wohnt überdurchschnittlich privilegiert. Auf dem Land ist die Wohnsituation optimal." Dafür muss allerdings der Preis eingeschränkter Mobilität bezahlt werden. Wie sich unterschiedliche Lebensbedingungen von Kindern auf deren Kompetenzen im späteren Leben auswirken, kann Christian Alt zur Zeit noch nicht beantworten: "Das ist die spannende Frage, die wir gerade untersuchen", bemerkt der Soziologe.

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