Machtfaktor oder zahnloser Tiger?

Brüssel · Viel Einfluss - und doch zuweilen machtlos im Kräftespiel mit den Nationalstaaten: Das Europaparlament ist ein ganz besonderes Gebilde. Und zwei Tage vor der Wahl steht fest: Es hatte nie zuvor so viel Handlungsspielraum.

Brüssel. Martin Schulz schäumte vor Wut. Der Etat-Deal sei ein "unglaubliches Täuschungsmanöver", wetterte er über den von den Staats- und Regierungschefs vereinbarten Sparhaushalt für die EU. Kaum hatten Angela Merkel und Co. die Einigung auf eine Budgetkürzung für Brüssel verkündet, drohte der EU-Parlamentspräsident mit einem Veto der Abgeordneten: "Ich sehe nicht, wie das eine Mehrheit finden soll." Europawahl 22. bis 25. Mai 2014

Nach monatelangem Gefeilsche stimmten die EU-Volksvertreter dem "Unannehmbaren" doch zu. Zwar erreichten sie Nachbesserungen. Doch die von Großbritannien und Deutschland betriebene Ausgabenkürzung blieb unangetastet. Dabei wollten die Parlamentarier eigentlich eine saftige Erhöhung durchsetzen. Martin Schulz rechtfertigte sein Nachgeben pragmatisch: "Das ist nicht die beste Lösung, aber das Maximum. Zwischen nichts und mehr ist meine Ansicht, dass ein Prozent von etwas mehr ist als 100 Prozent von nichts."Es war nicht das erste Mal, dass der EU-Parlamentspräsident als Tiger lossprang und als Bettvorleger landete. Wenn\'s ums Geld geht, geben im Kräftemessen der EU-Institutionen die großen Zahlerländer - allen voran Deutschland - in Europa den Ton an. Die Schuldenkrise hat die Machtverschiebung zu den Hauptstädten - die im Rat vertreten sind - verstärkt. Schließlich haften die Nationalstaaten und nicht Brüssel für die Hilfskredite an die Problemländer. Viele Vereinbarungen zur Euro-Rettung wurden wegen des Zwangs zur Eile und rechtlicher Rücksichten zwischenstaatlich vereinbart - und damit der Kontrolle der EU-Volksvertretung entzogen. Wie zuletzt beim Abwicklungsfonds für marode Banken - trotz heftiger Proteste aus dem Parlament.Auch wenn sie zuweilen im Machtkampf mit EU-Kommission und nationalen Regierungen unterliegen: So viel Einfluss wie heute hatten die Abgeordneten noch nie. Mit dem Vertrag von Lissabon begann Ende 2009 eine neue Ära. Aus einem anfangs nur beratenden "Debattierclub" wurde endgültig ein selbstbewusster Gesetzgeber - auf Augenhöhe mit den Regierungen im Rat.Bei gut 90 Prozent der EU-Gesetze bestimmt das Parlament mit: egal ob es um Vorschriften für Lebensmittelsicherheit, die Deckelung der Banker-Boni oder Abgasnormen für Autos geht. Gegen den Willen der Abgeordneten geht selbst in einstigen Regierungsdomänen wie der Innen- und Justizpolitik so gut wie nichts mehr. Auch bei der Agrarpolitik, die immerhin mehr als ein Drittel des EU-Haushalts verschlingt, sind die Abgeordneten nun nicht mehr außen vor. Dennoch wird das EU-Parlament den Ruf des zahnlosen Tigers nicht los. Auch weil es anders funktioniert als der Bundestag. Die Abgeordneten haben kein Initiativrecht für Gesetze - das hat allein die Kommission. Die multinationale Volksvertretung kennt zudem keine klare Lagerbildung aus Regierungs- und Oppositionsfraktion, weil die EU kein Staat mit klassischer Exekutive ist. Rund 160 nationale Parteien aus 28 Staaten sind vertreten, zusammengeschlossen in sieben länderübergreifenden Bündelfraktionen der Konservativen (EVP), Sozialisten (S&D) und anderer politischer Richtungen. Bei den EU-Liberalen etwa sitzen zwei niederländische Parteien gemeinsam in den Fraktionsreihen, die daheim Regierung und Opposition bilden. Ein Christsozialer aus Luxemburg würde sich in der SPD oft heimischer fühlen als in der CDU - gehört aber mit den deutschen Unionsabgeordneten der Europäischen Volkspartei (EVP) an. Hinzu kommt: Will das EU-Parlament als Institution gegenüber Rat und Kommission Stärke zeigen und Gesetzesvorschläge ändern, braucht es eine absolute Mehrheit der gewählten (nicht der anwesenden) Mitglieder des Europaparlaments. Da üblicherweise nicht alle Abgeordneten zu Plenarsitzungen anwesend sind, kann das Parlament faktisch nur durch eine Zusammenarbeit aus EVP und S&D Mehrheiten organisieren. In der zu Ende gehenden Legislaturperiode verabschiedete das Europaparlament 760 EU-Gesetze, Richtlinien und Verordnungen. Die Abgeordneten müssen dem EU-Etat ebenso zustimmen wie der Aufnahme neuer Mitgliedsländer oder Verträgen mit Drittstaaten. Ausgerechnet in einem Kernpunkt haben die Abgeordneten nichts zu sagen: in der Frage, wo sie tagen. Einmal im Monat müssen die Parlamentarier mit Sack und Pack von Brüssel nach Straßburg zur Sitzungswoche reisen - obwohl sie auch in der EU-Hauptstadt einen Plenarsaal haben. Mindestens 150 Millionen Euro verschlingt dieser "Wanderzirkus". Der Grund: Frankreich setzte einst in der Runde der Staats- und Regierungschefs Straßburg als Parlaments-Sitz durch, ließ zwölf Sitzungswochen im Jahr in die EU-Verträge schreiben. Und diese Rechtstexte können nur einstimmig geändert werden. Mehr Infos zur Europawahl:volksfreund.de/wahlenExtra

V wie Verträge: Der 1992 in Maastricht unterzeichnete Vertrag regelt die Funktionsweise der EU und wichtige Politikfelder wie Außen- und Sicherheitspolitik, Justiz und Inneres. Ergänzt und geändert wurde der EU-Vertrag 1997 in Amsterdam, 2001 in Nizza und 2007 in Lissabon (Lissabon-Vertrag). W wie Wahlrecht: Die Abgeordneten werden nach dem Verhältniswahlsystem mit einer Stimme auf fünf Jahre gewählt. Dabei entspricht der Stimmenanteil einer Partei der Zahl ihrer Sitze. Deutschland und zwölf andere Länder haben keine prozentuale Sperrklausel für die Sitzvergabe. In Belgien, Griechenland, Luxemburg und Zypern besteht Wahlpflicht. (Wird fortgesetzt.) dpa

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