Männliche Ehre, Härte und Stärke

TRIER. Überdurchschnittliche Kriminalität bei jungen Russland-Deutschen: Was sind die Gründe für diese Entwicklung? Darüber sprach der TV mit demTrierer Soziologen Waldemar Vogelgesang. Dessen aktuelles Forschungsprojekt beschäftigt sich mit jugendlichen Aussiedlern.

Warum sind junge Aussiedler überdurchschnittlich oft in Gewaltdelikte oder Drogenhandel verwickelt? Vogelgesang: Sind sie das wirklich? Die Statistik weist zwar eine etwas erhöhte Kriminalitätsbelastung auf. Aber möglicherweise beruht diese Zahl auch auf einer irrigen Annahme, denn über Aussiedler liegen keine verlässlichen Zahlen vor. Dennoch: Richter, Staatsanwälte, Polizisten und Sozialarbeiter sagen, dass gerade junge Aussiedler besonders häufig zu harten Drogen greifen oder zur Gewalttätigkeit neigen… Vogelgesang: In der Tat kommen bestimmte Kriminalitätsformen bei Aussiedler-Jugendlichen überproportional oft vor, etwa Drogen- und Gewaltdelikte. Im Gegensatz zu deutschen Jugendlichen durchlaufen junge Aussiedler nicht die klassische Drogenkarriere. Sie gehen direkt von Null auf Hundert, landen also sehr schnell bei den harten Drogen. Nach Studien ist auch die Cliquen- und Bandenbildung unter Aussiedler-Jugendlichen viel ausgeprägter. Woran liegt das? Vogelgesang: Zum einen an der Sprachbarriere, zum anderen an den unterschiedlichen Mentalitäten. Russische Jugendliche haben ein ganz anderes Körperbild. Schmerzerfahrung wird als Mutprobe und Härte-Ideal regelrecht inszeniert. Nur so wird man in der Gruppe anerkannt. Hat der Drogenkonsum auch etwas mit der Entwurzelung der Jugendlichen zu tun? Vogelgesang: Die jungen Aussiedler könnte man als eine "mitgenommene Generation" bezeichnen, aus ihrer Herkunftskultur herausgerissen und in einer Diaspora-Situation gelandet. Viele der 15- bis 30-Jährigen sind Migrationsverlierer, die uns in der Region Trier und anderswo noch eine ganze Weile Probleme bereiten werden. Umso wichtiger sind durchdachte Integrationsprojekte. Warum wird das Thema in der politischen Diskussion bislang eher tabuisiert? Vogelgesang: Aussiedler tauchen nach ihrer Einbürgerung als "Pass-Deutsche" ab, zählen also zur deutschen Bevölkerung. Dadurch gerät aus dem Blick, dass es sich bei vielen Aussiedlern um kulturell Fremde handelt. Sie bringen ihre eigenen Werte, Sitten und Gebräuche und vor allem ihre eigene Sprache mit. Das ist problematisch und fällt in der politischen Diskussion fast völlig unter den Tisch. Verschärft die vielerorts praktizierte "Kasernierung" das Problem nicht noch? Vogelgesang: Damit wird nicht nur die erste Chance zur Integration verpasst. Denn an die Fremd-Ghettoisierung schließt sich bei vielen Jugendlichen eine Selbst-Ghettoisierung in Cliquen an. Dort jemanden herauszulösen, ist äußerst schwierig. Für viele junge Aussiedler wird die Gruppe zur Lebens- und Überlebensressource. Damit sind die Weichen für eine kriminelle Karriere oft gestellt. Was müsste getan werden, um daran etwas zu ändern? Vogelgesang: Schon in den Übergangswohnheimen müsste es Crash-Kurse in Deutsch geben, denn die Sprachförderungen sind vielfach nicht ausreichend. Der vom Migrationsdienst der Caritas in Trier initiierte runde Tisch "Sprachförderung für Migranten" ist auch ein Schritt in die richtige Richtung. Aus der Migrationsforschung ist längst bekannt: Ohne Sprachkenntnisse bleibt die neue Heimat fremd. Ist da in den vergangenen 15 Jahren nicht vieles verpennt worden? Vogelgesang: Man hat zumindest Erfahrungen aus der Migrationsforschung nicht zur Kenntnis genommen. Wenn wir uns in Deutschland nicht mit dem kulturellen Hintergrund und den Herkunftsgegebenheiten der Aussiedler beschäftigen, werden wir sie nicht verstehen und sie völlig falsch anpacken. Wenn man nicht um die männliche Ehre, Autoritätsgläubigkeit und ein Körperbild, das auf Stärke und Härte zielt, weiß, laufen viele Bemühungen, mit den jungen Russlanddeutschen in Kontakt zu kommen, ins Leere. Jugendarbeit muss gezielt auf die Aussiedler-Jugendlichen zugehen und sie animieren. Sie ist vielfach die letzte pädagogische Bastion vor der Ein-Igelung in einer Art Parallelgesellschaft. Mit Waldemar Vogelgesang sprach TV-Redakteur Rolf Seydewitz.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort