"Man war froh über alles, was man noch hatte"

Schwirzheim · Mit seiner Großmutter Agnes Schoden sprach vor zehn Jahren ihr Enkel Roland über die Geschehnisse am Ende des Zweiten Weltkriegs. Seine Mutter Elfriede Schmitz stellte uns das Gespräch zur Verfügung - "damit diese Zeit nicht in Vergessenheit gerät"

Interview mit meiner Oma Agnes Schoden über das Kriegsende vor 60 Jahren

Agnes Schoden wurde im Jahr 1925 geboren. Ihr Vater wurde im 1. Weltkrieg verletzt und konnte wegen seiner Verletzung nur bedingt in der Landwirtschaft mitarbeiten. Er starb während des Krieges im September 1942 im Alter von 56 Jahren an einem Krebsleiden. Drei Wochen später erfuhr meine Oma, dass ihr Bruder Johann, der erst im April des gleichen Jahres eingezogen worden war, nur 2 Tage nach ihrem Vater in Russland gefallen war.

Agnes Schoden wurde im Jahr 1925 geboren.

Meine Oma wohnte in Schwirzheim, einem Ort in der Nähe von Prüm. Als der Krieg endete, war sie 20 Jahre alt.

Von den Erlebnissen der letzten Kriegstage erzählt sie:
"Am Sonntag dem 5. März sind die Amerikaner nach Schwirzheim gekommen. Den ganzen Samstag wurde noch heftig geschossen, Granatenangriffe waren von weitem zu hören. Ein Mädchen aus dem Dorf starb an diesem letzten Tag des Krieges, weil es zu nah am Fenster saß und eine Granate einschlug. Daraufhin beschlossen wir, in den Keller zu gehen.

In den letzten Kriegstagen wurde von deutschen Soldaten ein Geschütz im Dorf aufgestellt. Sie kamen allerdings nicht mehr zum Schießen, da sie von den ersten Schüssen der Amerikaner getötet wurden. Im Nachhinein war das ein großes "Glück" für das ganze Dorf, da wir bei Gegenwehr noch stärker beschossen worden wären. Wir saßen betend im Keller zwischen den Kartoffeln.

Am Sonntag nachmittag, es war so um drei Uhr riefen unsere Nachbarn durch einen Spalt: "Kommt raus, der Ami ist da". Wir gingen raus und sahen einen Amerikaner mit seinem Gewehr auf uns zukommen. "Alle sollen raus und in der Kirche zusammenkommen", befahl er uns. Meine Großmutter war bis zum Samstagabend noch geistig klar, jetzt aber war sie verwirrt, weil wir so kurzfristig in den Keller gemusst hatten. Sie wollte während der ganzen Zeit, die wir im Keller verharrten, hinauslaufen und litt unter Wahnvorstellungen. So mussten wir sie die ganze Zeit festhalten, weil sie sonst von den Bombeneinschlägen getötet worden wäre. Es durfte einer bei ihr bleiben und wir anderen folgten den Anweisungen des Soldaten. Eine Dorfhälfte war in der Kirche versammelt. Weil das Dach der Kirche kaputt war, machte die Kälte uns sehr zu schaffen. Ein bis zwei Stunden warteten wir, bis ein Amerikaner auf eine Bank stieg und sagte: "Geht jetzt nach Hause. Entweder gemeinsam in ein Zimmer oder in den Keller". So gingen wir zurück und stiegen wieder in unseren Keller.

Wir waren verunsichert, weil wir nicht wussten, ob die deutschen Soldaten zurückkommen und Gegenwehr leisten würden.

Die Kühe wurden abends nicht gemolken. Wir waren im Keller, die Amis wohnten in unserem Haus. Morgens sind wir zu unserem Haus gegangen, kamen aber nicht rein, weil uns ein Soldat an der Tür zurückwies. Wir huschten in den Stall und fütterten das Vieh. Später kam ein Ami in den Keller, der Deutsch konnte. Wir erklärten ihm, wo er im Haus Brot für uns finden würde. Er kam jedoch auch nicht rein, weil er nicht zu der Gruppe gehörte, die in unserem Haus wohnte. Er ging wieder fort und kam zurück mit Weißbrot und Käse von seiner Verpflegung. (Die Amerikaner durften das eigentlich nicht, aber er hatte Mitleid mit uns). Mittags reichten uns unsere Nachbarn Erbsensuppe durch das Kellerfenster. Ihr Haus war nicht so kaputt, wie unseres und ihre Besetzer erlaubten ihnen im Haus zu kochen.

Nachmittags wurden die Soldaten ausgewechselt; man sah sie packen und andere mit Gepäck auf der Straße stehen. Die Soldaten des 1. Trupps zogen nun weiter in das nächste Dorf. Als die Neuen kamen, nutzten wir die Gelegenheit, um ins Haus zu kommen. Wir durften uns etwas auf dem Herd kochen. Die neuen Soldaten kochten sich auch etwas auf dem Herd und wohnten in unserem Haus. Zum Essen, Wohnen und Schlafen gingen wir in den Keller. Es war eh wenig Platz wegen der vielen Soldaten, und in manchen Räumen konnte man den Himmel sehen, weil das Dach teilweise kaputt war. Die neuen ließen uns gewähren. Als wir das erste Mal wieder ins Haus kamen, sahen wir, welche Verwüstung der erste Trupp angerichtet hatte. Die Kleider und alle Wäsche waren aus den Schränken gerissen worden und lagen zerstreut auf dem Boden. Dazwischen lagen ausgekippte Einmachgläser; die Sauerei war groß. Außerdem hatten sie unser Radio, Wolldecken und die Mandoline meines Bruders mitgenommen.

Die zweite Gruppe war anders. Sie halfen uns, die Wäsche zusammenzutragen. Man war über alles froh, was man noch hatte. Einer von den Amis gab mir im vorbei gehen ein Stück Seife, deutete mit dem Finger an, ich solle nichts sagen. Es waren gute Leute unter ihnen, aber es war verschieden. Der zweite Trupp war bis Donnerstag im Haus, danach in einem anderen, weil unseres so kaputt war. Die sind dann nach einer Zeit auch weitergezogen. Man bekam gar nicht richtig mit, wie das organisiert wurde.

So sind wir donnerstags ins Haus gekommen. Wir schlugen ein Bett für meine Großmutter in der Ecke im Wohnzimmer auf, wo das Dach noch dicht war. Am Sonntag, eine Woche, nachdem die Amis in unser Dorf gekommen waren, starb sie. Wir bekamen durch unsere Nachbarin Kontakt zum Ortskommandanten, der im Haus unserer Nachbarn wohnte. Er bot uns an, einen Priester für die Beerdigung holen zu dürfen. Der Priester aus Gondelsheim durfte kommen und so war mittwochs nachmittags Messe für meine verstorbene Großmutter. Wir durften mit 12 Personen und dem Priester durch den 0,5 Meter hohen Matsch zum Friedhof stampfen. Man musste mit so wenigen Personen durch die Straßen gehen, weil der Verkehr der Amis nicht beeinträchtigt werden durfte. Man konnte auch niemanden aus einem anderen Dorf benachrichtigen, weil es weder Telefon noch Postdienst gab. Der Priester segnete an diesem Tag auch noch einige andere Gräber, weil einige Verstorbene in letzter Zeit ohne Priestersegen beigesetzt worden waren.

Bei uns waren die Amis 14 Tage bis 3 Wochen im Dorf. Sie sind dann weitergezogen um weitere Orte einzunehmen. Mit dem Abzug der Amis begannen wir, die kaputten Häuser aufzubauen. Die Dächer wurden vielfach mit Zeltplanen, die die Amis liegen gelassen hatten repariert. Unser Dach wurde mit Stroh geflickt. Es wurden auch vielfach aus den Zeltplanen Regenmäntel oder andere Kleidungsstücke gefertigt. Man war halt über alles froh, was man fand. Es gab ja sonst nichts.

Nachdem die Amis weitergezogen sind, gab es in Prüm eine amerikanische Kommandantur, die uns mitverwaltete. Nach Kriegsende sind wir französische Besatzungszone geworden."

Fragen an die Zeitzeugin:

Roland: "Habt ihr davon gewusst, dass Juden vergast wurden?"
Agnes S.: "In Gerolstein waren viele Juden. Man hörte von Schmierereien an ihren Hauswänden und ging davon aus, dass es kriminalistische Nazis gewesen waren. Wir bekamen auch mit, dass die Juden wegkamen. Aber wohin wussten wir nicht. Sie verschwanden meist nachts."

Roland: "Hast du von dem Selbstmord Hitlers erfahren?"
Agnes S.: "Von dem Selbstmord Hitlers habe ich nichts erfahren. Es hieß, Hitler sei verschwunden."

Roland: "Wie stark war die Macht Hitlers in den letzten Monaten?"
Agnes S.: "Sobald der Ami durchfuhr, war die Macht Hitlers herum. Vorher liefen die deutschen Soldaten immer wieder mal durchs Dorf."

Roland: "Habt ihr euch besiegt oder befreit gefühlt?"
Agnes S.: "Teils, teils. Man war froh, dass die Front weg war und man nicht mehr beschossen wurde. Wir empfanden keine Trauer um Hitler, den wären wir gerne schon früher losgewesen. Andererseits waren wir verunsichert, weil man nicht wusste, was kommen würde."

Roland: "Was ist mit den Nazis nach Kriegsende passiert?"
Agnes S.: "Unseren Schullehrer haben die Franzosen mitgeholt, weil er mit den Nazis zusammengearbeitet hatte. Er war allerdings kein überzeugter Nazi gewesen; er hatte seinen Dienst als Lehrer nur getan, um seine Familie ernähren zu können. Als ich ihn im Urlaub seines Kriegsdienstes antraf, und ihn mit "Heil Hitler" grüßte, sagte er anstatt "Heil Hitler" "Guten Tag". Er kam aus der Gefangenschaft zurück."

Roland: "Hast du mitbekommen, wie hohe Nazipersönlichkeiten nach Kriegsende die Flucht ergriffen haben?"
Agnes S.: "Man hörte, dass sich viele ins Ausland abgesetzt hätten. In Prüm war ein Kreisleiter, der ein extremer Hitlerfanatiker war und Zahnarzt von Beruf gewesen war. Er hat sich nach Kriegsende an die andere Rheinseite abgesetzt und als Zahnarzt weitergearbeitet."

Roland: "Sind viele verhaftet worden, weil sie mit den Nazis zusammengearbeitet hatten?"
Agnis S.: "Es sind viele nach und nach verhaftet worden: mein Lehrer, die Ortsgruppenführer, … Es waren welche, die es verdient hatten, aber es wurden auch viele unschuldig verhaftet."

Roland: "Wie lange seid ihr ohne Strom gewesen?"
Agnes S.: "Der Strom ist im Winter 1944/1945 abgerissen. Erst ein Jahr nach den Amerikanern hatten wir wieder Strom. Zuerst wurden die Städte aufgebaut."

Roland: "Wie stark wurden die Städte zerstört?"
Agnes S.: "Die Städte Gerolstein, Hillesheim und Prüm wurden schwer zerstört. Prüm hatte im Herbst 1944 schon Räumungsbefehl. Der Räumungsbefehl wurde erteilt, um die Städte zu evakuieren, bevor die Front heranrückt. Auch unser Dorf hatte schon den Räumungsbefehl; wir hatten schon einen Wagen gepackt, um schlimmstenfalls das Dorf schnell verlassen zu können."

Roland: "Waren deine Eltern in der Partei?"
Agnes S. "Nein, sie hielten von Anfang an nicht viel von Hitler. Sie waren auch zufrieden mit ihrem Beruf. Wenn man "was" werden wollte im NS-Staat, dann musste man in der Partei sein. Wir Kinder mussten ab dem 5. Schuljahr zur Hitlerjugend."

Roland: "Hast du Erfahrungen mit Schwarzen gemacht?"
Agnes S.: " In unserem Dorf waren wenige aber in Gondelsheim waren während der Besatzung der Amerikaner viele von ihnen. Die sind mehrere Male Brennholz klauen gekommen und wir wussten nicht, ob man sich dagegen zur Wehr setzten durfte, oder nicht. Wir fragten den Ortskommandanten, der im Nachbarhaus wohnte und er sorgte dafür, dass sie kein Holz mehr klauten. Vor der Hautfarbe selber habe ich mich nicht gefürchtet - man hatte Aufregung genug in der Zeit."

Roland: "Wie waren deine Erfahrungen mit den NS-Organisationen SS, SA, Gestapo?"
Agnes S.: "Bei uns im Dorf war keine Gewalt dieser Organisationen zu spüren. Es waren zwar auch Einzelne in der SA, sie waren aber nicht gewalttätig. Im Winter 1940 waren SS-Soldaten im Dorf, die durchgefüttert werden mussten. Es waren normale Leute."

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort