Narben des Rassismus noch immer zu spüren

Washington · Die Polizistenmorde von Dallas halten die Vereinigten Staaten in Atem. Und nun wird darüber diskutiert, ob sich neben den Konflikten zwischen Schwarz und Weiß auch noch andere Gräben durch die US-Gesellschaft ziehen.

Washington. Es war John Lewis, das lebende Denkmal der Bürgerrechtsbewegung, der den Finger direkt in die Wunde legte. Manchmal habe er das Gefühl, als ob man ihn wieder hinabrutsche, den Hang, den man zu erklimmen versuche, sagte der Kongressabgeordnete aus Georgia, der einst neben Martin Luther King marschierte, um mit gewaltlosem Widerstand die Mauern der Rassentrennung zum Einsturz zu bringen.
Die Narben des Rassismus seien noch immer schmerzhaft zu spüren, "wir müssen uns ihrer annehmen", mahnte der 76 Jahre alte Politiker, als die Polizistenmorde in Dallas ihre Schockwirkung entfalteten.
Der Horror von Dallas, darin ist sich das Land einig, bedeutet eine Zäsur, er kann sogar einen Wendepunkt markieren. Nur bleibt unklar, in welche Richtung es geht.
Unangenehme Wahrheiten


Ob man ungeschminkt über unangenehme Wahrheiten rede und dabei zu einem sinnvollen Dialog finde oder aber sich in die Gewissheiten des eigenen Stammesdenkens zurückziehe, dies sei die offene Frage, sagt David Brooks, einer der Starkolumnisten der New York Times. Wobei er mit dem Stammesdenken weniger die Konstellation Schwarz gegen Weiß meint, sondern vielmehr die Gräben, die sich immer tiefer durch die Gesellschaft zu ziehen scheinen. Auf der einen Seite das aufgeklärte, tolerante, optimistische Amerika, auf der anderen Seite das verunsicherte, skeptische, sich nostalgisch nach "guten alten Zeiten" sehnende, das sich nun in seinen Vorurteilen bestätigt sieht.
Nach Dallas ist eine Jahreszahl in aller Munde: 1968. Das Jahr, in dem Martin Luther King und Robert Kennedy ermordet wurden, in dem überall Unruhen ausbrachen, Geschäfte in Flammen aufgingen, ganze Straßenzüge verwüstet wurden. Droht 2016 zu einem zweiten 1968 zu werden?
Barack Obama beantwortet die Frage mit einem klaren Nein. Die Vereinigten Staaten seien bei weitem nicht so gespalten, wie manche es jetzt suggerierten, betonte er am Rande des Nato-Gipfels in Warschau. Was die Nation eine, sei der Zorn auf einen kranken Attentäter, der das schwarze Amerika ebenso wenig repräsentiere, wie der Todesschütze von Charleston das weiße Amerika repräsentiert habe - jener Dylann Roof, der in einer afroamerikanischen Kirche in South Carolina auf Gläubige schoss.
Vieles von dem, was 1968 das Pulverfass explodieren ließ, gebe es 2016 glücklicherweise nicht, argumentieren die Optimisten. Keinen Vietnamkrieg, keine Welle politischer Hinrichtungen, keinen urbanen Kollaps. Folglich seien Vergleiche an den Haaren herbeigezogen. Allein schon der Marsch, mit dem die Aktivisten von "Black Lives Matter" in Dallas gegen die vorangegangenen Exzesse von Baton Rouge und St. Paul protestierten: War er nicht der beste Beweis für die Funktionsfähigkeit einer offenen Gesellschaft? Friedliche Demonstranten versammelten sich, um ihren Unmut über das Vorgehen von Polizisten kundzutun.
Dann wieder ist es ausgerechnet ein Ordnungshüter, der die kritischsten Worte findet zum Status quo. Edward Flynn, Polizeichef der Stadt Milwaukee, sagt ohne Umschweife: "Wir sind das am schwersten bewaffnete, am ehesten zur Gewalt neigende Land der industrialisierten Welt, und es sind Afroamerikaner, die am meisten darunter leiden." Die höchste Kriminalitätsrate, die schlimmste Armut, die schlechtesten Bildungschancen, das alles komme zusammen in Vierteln, in denen überwiegend Afroamerikaner leben. "Und was tun wir? Wir bürden der Polizei unsere sozialen Probleme auf." Auch nach Dallas fehlt es nicht an Wortmeldungen, die wie Öl ins Feuer wirken. Den rhetorischen Tiefpunkt hat Joe Walsh erreicht, ein Republikaner aus Illinois, der via Twitter Zeilen voller Hass in die Welt setzte, bevor er den Eintrag löschte. "Das ist jetzt Krieg. Pass auf, Obama. Passt auf, ihr Armleuchter von Black Lives Matter. Das wahre Amerika ist euch auf den Fersen."
William Johnson, Direktor einer Berufsorganisation von Polizisten, vergleicht den Präsidenten der USA mit dem britischen Premier Neville Chamberlain, dem Appeasement-Politiker des Münchner Abkommens. "Was wir erleben, ist ein Krieg gegen die Cops, und Obama ist der Neville Chamberlain dieses Krieges."
Zu beobachten ist aber auch der Versuch der politischen Klasse, die Gemüter zu beruhigen, die sonst so giftige Wahlkampfrhetorik zumindest für ein paar Tage zurückzufahren. Sogar Donald Trump verzichtete auf Verbalkeulen, während seine Rivalin Hillary Clinton zu einem Dialog der Vernunft aufrief. Letzteres hatte man natürlich erwartet, bemerkenswert aber sind Töne, wie sie diesmal - abgesehen von Walsh - aus den konservativen Reihen zu hören sind.
Newt Gingrich etwa, einst der parlamentarische Gegenspieler des Präsidenten Bill Clinton, spricht davon, dass man in Amerika offenbar gefährlicher lebe, wenn man schwarze Haut habe. Als Schwarzer, so Gingrich, "kommst du viel wahrscheinlicher in eine Lage, in der dich die Polizei nicht respektiert".Extra

Es gibt ein Foto, das Micah Johnson in bunt besticktem Gewand mit gereckter Black-Power-Faust zeigt, eher melancholisch als wütend in die Kamera blickend. Das Bild hat er auf seine Facebook-Seite gestellt. Im Nachhinein soll es dazu beitragen, ein Puzzle zusammenzusetzen, Antworten auf die Frage zu finden, warum ein junger Afroamerikaner im Zentrum einer amerikanischen Großstadt ein Blutbad anrichtet und dabei systematisch Polizisten ins Visier nimmt. Micah Xavier Johnson, der sich am liebsten X nannte, nach seinem zweiten Vornamen, wusste offenbar genau, was er tat. Er scheint sich akribisch vorbereitet zu haben. Das zumindest glauben die Ermittler aus einem Tagebuch des 25-Jährigen sowie aus Aussagen von Nachbarn herauslesen zu können. Demnach ging Johnson wie ein Soldat vor, der er einmal war, womit er die Polizisten in Dallas noch zusätzlich verwirrte. Als er die Polizisten in Dallas attackierte, verschanzte er sich in einem Parkhaus und feuerte von oben auf die Beamten in den Straßen, um schnell seinen Standort zu wechseln und erneut zu schießen. In seiner Wohnung fand die Polizei ein umfangreiches Arsenal an Waffen, Munition und Material zum Bau von Bomben. 2009, unmittelbar nach dem High-School-Abschluss, war Johnson zum Militär gegangen. Von Herbst 2013 bis Sommer 2014 war er im Einsatz in Afghanistan. Nach seiner Rückkehr vom Hindukusch soll er sich radikalen afroamerikanischen Gruppen zugewandt haben, obskuren Nachfolgern der Black-Power-Bewegung der Sechzigerjahre, welche die Polizei in Amerika pauschal als Instrument der Unterdrückung von Schwarzen begreifen. Frank Herrmann

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