Parteiisch zugunsten der Kinder

TRIER. Kindesmissbrauch und -misshandlung, das ist ein Phänomen verkommener Großstädte: So lautet ein weit verbreiteter Irrtum. Die Arbeit des Kinderschutzdienstes, für die in Trier der Kinderschutzbund verantwortlich zeichnet, beweist leider täglich das Gegenteil.

Kirsten Erdtmann ist ein fröhlicher Mensch. "Es klingt paradox, aber: Meine Arbeit macht mir Spaß", sagt die Diplom-Pädagogin. Auf den ersten Blick verwundert ihre Aussage in der Tat. Denn Kirsten Erdtmann kümmert sich um einen Bereich, der den meisten Menschen Depressionen verursacht: Die Arbeit mit misshandelten und missbrauchten Kindern. Einzelfälle? Von wegen. In 166 Fällen mussten Erdtmann und ihre drei Kolleg(inn)en im vergangenen Jahr aktiv werden, weil ein konkreter Verdacht oder eine erwiesene Tat vorlag. Manchmal ließ sich der Vorfall anderweitig klären, oft wurde er auch an andere Hilfsinstitutionen weitergeleitet. Aber bei 51 Kindern und Jugendlichen war eine längerfristige Betreuung und Beratung nötig - allein im Bereich der Stadt Trier und des Kreises Trier-Saarburg. Es sind Schicksale, die den Mitarbeitern unter die Haut gehen. Fast die Hälfte der Opfer ist zwischen sechs und zehn Jahren alt, in jedem fünften Fall hat das Kind nicht einmal das Schulalter erreicht. Mädchen sind eindeutig in der Mehrheit, aber ein Drittel der Fälle von sexuellem Missbrauch betrifft Jungen. Wenn die Tat erwiesen ist, konzentrieren sich die professionellen Helfer vom Kinderschutzdienst auf den Schutz und die Stabilisierung des betroffenen Kindes. Das ist oft so, wenn Jugendämter oder Gerichte den KSD einschalten. Aber manchmal ist die Situation weniger klar. Zum Beispiel, wenn Lehrer, Erzieherinnen, Verwandte oder Nachbarn Spuren und Verhaltensweisen entdecken, die auf Missbrauch oder Misshandlung schließen lassen. Striemen und Hämatome hat Kirsten Erdtmann schon gesehen, Kinder, die mit Gegenständen geschlagen worden waren. Und dann die Ausrede vom Treppensturz. Und doch dürfen die Fachleute vom KSB nicht voreingenommen sein. Schnelldiagnostik, Andeutungen aus Kinderbildern als Beweis für Missbrauch: Da ist Erdtmann skeptisch. "Fingerspitzengefühl und fundierte Ausbildung" fordert sie von sich und ihren Kollegen ein. Der Grat ist schmal: Potenzielle Opfer ernst nehmen und trotzdem Distanz wahren. Wobei Distanz beim Fachdienst des Kinderschutzbundes nicht Neutralität heißt: "Bei uns stehen allein die Interessen des Kindes im Mittelpunkt". Will heißen: Gegen den erklärten Willen des Kindes passiert nichts. Das kann auch den Verzicht auf eine Anzeige bedeuten. Der KSD ist keine Behörde, die zur Strafverfolgung verpflichtet wäre. Und manchmal besteht tatsächlich die Chance auf eine Einigung im Familienkreis. Was den Experten Sorge macht, ist die wachsende Zahl von Fällen, in denen Gewalt gegen Kinder von Kindern oder Jugendlichen ausgeht. Gewalt-Übergriffe, sexuelle Grenzüberschreitungen gegen den Willen des gleichaltrigen Opfers ("Date-Rapes"): Das ist ein neuer Trend. Die Täter-Klientel ist breit gestreut, "querbeet durch alle Schichten", sagt Kirsten Erdtmann. Wie überhaupt die Arbeit des KSD alle möglichen sozialen Gruppen umfasst. Auch das, was die Mitarbeiter "seelische Misshandlung" nennen: Demütigung, Machtmissbrauch, ständiges Runtermachen. "Das kann viel schlimmer sein als Prügel", sagt die Pädagogin, "wird aber kaum als Gewalt wahrgenommen". Das Arbeitspensum beim KSD wird eher steigen, obwohl 50 Dauer-Fälle für vier Halbtags-Mitarbeiter schon jetzt eine kaum bewältigbare Belastung darstellen. Käme "Meine Burg", das Haus für den Kinderschutz, dann würden sich wenigstens die tristen äußeren Bedingungen verbessern. "Gerade Kinder in einer solchen Lage brauchen einen Schutzraum", weiß Erdtmann, "und Platz zum spielen". Mit reden allein seien sie oft nicht erreichbar, "vor allem die jüngeren". Und doch gibt es immer wieder Erfolgserlebnisse. Wenn missbrauchte Kinder "wieder selbstbewusst werden, sich selbst entdecken, anfangen, ein gutes Leben zu führen - trotz all der Wunden". Und das gehe nur, "wenn wir als Helfer Perspektiven vermitteln, und eine lebensbejahende Ausstrahlung". Deshalb ist Kirsten Erdtmann fröhlich, trotz allem. Nicht auszudenken, wie viel mehr sie und ihre Kollegen leisten könnten, wenn die Rahmenbedingungen besser wären. Mehr zur TV-Aktion "Meine Burg":

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