"Politik muss Hoheit gegenüber Märkten zurückgewinnen"

Berlin · Wolfgang Thierse, ehemaliger DDR-Oppositioneller und Urgestein der ostdeutschen Sozialdemokraten, kandidiert nach 23 Jahren nicht wieder für den deutschen Bundestag. Im Interview mit dem Trierischen Volksfreund äußert er sich zu aktuellen politischen Fragen.

Berlin. Als langjähriger Bundestagspräsident und Vizepräsident ist Wolfgang Thierse seit langer Zeit eine wichtige Stimme für die demokratischen Institutionen. Über deren Krise sprach unser Korrespondent Werner Kolhoff mit dem 69-jährigen gebürtigen Breslauer. Herr Thierse, sagt Ihnen der Begriff liquid democracy etwas?Wolfgang Thierse: Das ist der Versuch der Piraten, neue Beteiligungsformen in ihrer Partei zu eröffnen. Ich halte das für spannend, bin aber neugierig, wie sie dabei das Grundproblem aller Parteien lösen. Welches?Thierse: Demokratie lebt von Beteiligung. Aber sie lebt auch davon, dass Menschen für eine eigene Meinung einstehen und dafür werben. Demokratie verträgt sich nicht mit Anonymität.Haben die Piraten deswegen fast alle ihre Politiker, die sich nach vorne gewagt haben, schnell wieder verschlissen?Thierse: Die Piraten tun sich jedenfalls erkennbar schwer mit der persönlichen politischen Verantwortung einzelner. Bei den etablierten Parteien gibt es davon wiederum manchmal zuviel - und zuwenig Basisbeteiligung, so dass die Menschen sich davon abwenden, oder?Thierse: Natürlich, es gibt eine Vertrauenskrise des repräsentativen demokratischen Systems. Das hat zum einen mit individuellem Fehlverhalten einzelner Politiker zu tun. Aber mehr noch damit, dass viele Menschen den Eindruck haben, dass die Politik gar nicht mehr die wirkliche Macht hat, sondern der Ökonomie, den Managern und den Bankern hinterherrennt. Demokratische Politik muss ihre Gestaltungshoheit gegenüber den Märkten wieder zurückgewinnen.Sind Volksentscheide, wie sie zum Beispiel die CSU ausdrücklich auch für die Europapolitik will, eine Antwort auf die Politikverdrossenheit?Thierse: Bisher hat die Union alle Versuche abgeblockt, Volksentscheide auf Bundesebene einzuführen. Insofern ist der Vorschlag jetzt im bayerischen Landtagswahlkampf ziemlich wohlfeil. Ich habe nichts gegen mehr Elemente direkter Demokratie. Denn sie zwingen die Politik dazu, die wirklichen Gründe ihrer Entscheidungen überzeugend zu erklären. Bei der Griechenland-Rettung zum Beispiel wurde das von der Bundesregierung versäumt. Wie kann der Bundestag seine Debatten interessanter machen, so dass wieder mehr Menschen Lust haben, sie sich im Fernsehen anzusehen?Thierse: Der Bundestag ist nicht dazu da, das legitime Unterhaltungsbedürfnis von Menschen zu befriedigen. Ich befriedige mein Unterhaltungsbedürfnis dort auch nicht. Wir führen dort Debatten um manchmal dröge und komplizierte Sachprobleme, die einfach nicht alle interessieren können. Ich wünsche mir allerdings, dass es gelegentlich zu großen Themen auch große Debatten mit großen Reden gibt, und dass dann die Sendeanstalten das auch bringen, mit Einordnungen durch Journalisten. Und ich wünsche mir auch, dass die Abgeordneten so verständlich reden, dass die Bürger begreifen, worum es geht.Angesichts ihrer schieren Zahl hat man manchmal den Eindruck, die Talkshows seien das wahre Parlament der Nation.Thierse: Das hat Friedrich Merz einmal gesagt, es war eine törichte Bemerkung. In Talkshows geht es um das Dazwischenreden und die bessere Pointe. Das ist nicht ernst, das ist Unterhaltung. Im Bundestag wird es ernst, dort wird entschieden. Und diese Entscheidung muss jeder Abgeordnete vor sich selbst und den Bürgern verantworten. Bei Talkshows ist der Bürger bloß Fernsehzuschauer, Konsument. In der Wirklichkeit ist er Wähler, also auch Mitentscheider.Wie fanden Sie das Talk-Konzept von Stefan Raab?Thierse: Politische Debatten mit Siegern, die dafür Geld bekommen - das ist eine Perversion.Die Menschen informieren sich heute aus sehr vielen Quellen, auch in sozialen Netzwerken. Zerfließt die politische Kommunikation?Thierse: Sie ist offensichtlich vielschichtiger und unübersichtlicher geworden; es gelingt viel schwieriger als früher, sie auf ein oder zwei Themen zu fokussieren. Wegen der Überfülle an Informationen sind traditionelle Medien wie Zeitungen noch notwendiger als früher. Sie müssen Maßstäbe für die Verarbeitung und Einordnung der Informationen geben.Macht Ihnen das Zeitungssterben deshalb Sorgen?Thierse: Ja, sehr. Zeitung lesen bedeutet ja auch, sich Zeit zu nehmen, Argumente wahrzunehmen und abzuwägen. Ich glaube, dass seriöse Zeitungen, die Zusammenhänge herstellen und Informationen einordnen und bewerten, eine wirkliche Zukunft haben.Seit Jahren sind Sie aktiv im Kampf gegen rechts engagiert. Befriedigt Sie der Verbotsantrag des Bundesrates gegen die NPD?Thierse: Das ist keine Kategorie. Ich finde die monatelang dauernde quälende Debatte um dieses Verfahren allmählich peinigend und peinlich. Die zuständigen Länderinnenminister haben Material gesammelt und glauben, genug Gründe für ein Verfahren zu haben. Die Ministerpräsidenten haben sich ihnen angeschlossen. Jetzt sollten Bundesregierung und Bundestag ohne viel öffentliches Hin und Her dieses Material prüfen und dann entscheiden.Können es sich Bundesregierung und Bundestag denn politisch überhaupt leisten, sich der Klage nicht anzuschließen? Das würde die Aussichten in Karlsruhe ja noch schwächen, oder sehen Sie das anders?Thierse: In der Tat kann ich das nicht empfehlen. Wichtig ist mir aber, dass die Diskussionen endlich aufhören. Die geben der NPD derzeit am meisten Auftrieb. Der Rechtsextremismus ist eine viel größere Herausforderung, als viele in unserem Lande wahrnehmen. Das haben die NSU-Morde gezeigt. Der konjunkturelle Umgang mit dem Rechtsextremismus - heute Aufregung, morgen Desinteresse - der muss endlich mal aufhören.

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