Schüsse nach Gedenken an Michael Brown

Washington/Ferguson · Den Namen Michael Brown hat in Ferguson wohl kaum einer vergessen. Ein Jahr nach der Tragödie werden in dem Fall wieder traurige Erinnerungen geweckt. In der Nacht zu Montag fallen Schüsse, ein Mann wird schwer verletzt.

Washington/Ferguson. Das Video, das Tony Rice ins Internet gestellt hat, zeigt einen jungen Mann, der reglos auf dem Straßenasphalt liegt, rote Hose, weiße Turnschuhe, die Hände auf dem Rücken gefesselt, die nächtliche Szene von Polizeischeinwerfern erhellt. Er blutet so stark, dass Rice, ein schwarzer Aktivist aus Ferguson, die umstehenden Ordnungshüter mit einer Stimme, die von Satz zu Satz immer verzweifelter klingt, um Hilfe anfleht. "Hey, er blutet. So helfen Sie ihm doch, Mann. Bitte helfen Sie ihm. Er verblutet, Mann. Sie sehen es doch!"
Polizei spricht von Feuergefecht


Vorausgegangen war ein Tag friedlicher Demonstrationen, um Michael Browns zu gedenken, des vor zwölf Monaten von dem Streifenpolizisten Darren Wilson erschossenen schwarzen Teenagers. Die meisten waren längst nach Hause gegangen, als an der West Florissant Avenue Schüsse fielen, am Rande jener vierspurigen Magistrale, in deren Nähe Brown starb.
Nach Angaben Jon Belmars, des Polizeichefs von St. Louis, sollen sich rivalisierende Banden vor den Läden der Straße ein Feuergefecht geliefert haben. Vier Beamte in Zivil sollen die Verfolgung eines Fliehenden aufgenommen haben, erst in einem Geländewagen, dann zu Fuß. Nach Belmars Darstellung erwiderten sie das Feuer, als er auf sie schoss. In kritischem Zustand wird der Verwundete ins nächste Krankenhaus eingeliefert, und nachdem ihn Familienangehörige identifiziert haben, darf auch sein Name veröffentlicht werden: Tyrone Harris junior.
Zweifel des Vaters


Sein achtzehnjähriger Sohn, so der Vater, Tyrone Harris senior, sei mit Michael Brown eng befreundet gewesen. Was die Polizisten über den Tathergang zu Protokoll geben, kommentiert er mit einem skeptischen Satz. "Ich glaube, es war alles ein bisschen anders, als es jetzt dargestellt wird."
Reden gegen die Eskalation


Noch kann niemand seriös einschätzen, was die Schüsse auslösen, ob ihnen eine Welle heftiger Randale folgt, wie es nach Browns Tod der Fall gewesen war. Robert O. White, Pfarrer der Peace of Mind Church of Happiness, einer kleinen Kirche in Ferguson, redet tapfer an gegen ein solches Szenario der Eskalation. "Wir lassen nicht zu, dass 20 Minuten der Gewalt alles kassieren, was 365 Tage lang an harter Arbeit geleistet wurde", sagt der Geistliche beim Sender CNN. Ferguson befinde sich auf dem richtigen Weg, die Zeichen des Wandels seien unübersehbar, man werde verhindern, dass eine winzige Minderheit dies alles rückgängig mache.
Tatsächlich ist einiges geschehen, damit die Institutionen der Satellitenstadt vor den Toren der Metropole St. Louis genauer widerspiegeln, dass es sich um einen Ort mit einer Zweidrittelmehrheit schwarzer Bewohner handelt. Im sechsköpfigen Gemeinderat sitzen seit einer Kommunalwahl im April drei Afroamerikaner, während es zuvor nur einer war. Auch der neue City-Manager, der für den nebenberuflich tätigen Bürgermeister de facto die Amtsgeschäfte erledigt, hat dunkle Haut. Der alte war schon deshalb ins Gerede gekommen, weil er die Polizeitruppe angewiesen hatte, die prekäre Kassenlage durch inflationär verteilte Parkstrafzettel zu entspannen.
Seit Juli wird das Police Department kommissarisch von einem schwarzen Beamten geleitet, von André Anderson, der aus Arizona an den Mississippi wechselte.
Polizisten tragen Kameras


Neuerdings tragen die Ordnungshüter Kameras vor der Brust, so dass lückenlos aufgezeichnet werden kann, was sie im Dienst tun. Nur ändert das alles nichts an dem Gefühl, von den Autoritäten, von den Älteren nicht ernst genommen zu werden, wie es unter den Jüngeren viele empfinden.
Dass Polizist Wilson von einer Geschworenenjury entlastet wurde, bevor es überhaupt zu einem Gerichtsverfahren kam, liegt noch immer wie ein riesiger Schatten über der Stadt. Zu denen, die sich damit nicht abfinden wollen, gehört Lenard Smith alias Bud Cuzz, Gründer einer Protestgruppe namens Lost Voices, der die Stimmung seiner Generation in einem Satz bündelt. "Sie haben uns keine Gerechtigkeit gegeben, also bekommen sie auch keinen Frieden."

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