"Sie war in finanzieller Not"

TRIER. Weil sie auf mehreren Beerdigungen Kondolenzbriefe mit Bargeld gestohlen hat, ist eine 71-jährige Triererin gestern vom Amtsgericht zu einer zehnmonatigen Bewährungsstrafe verurteilt worden. Die Seniorin hatte zuvor ein umfangreiches Geständnis abgelegt.

Es muss schon etwas Besonderes auf der Tagesordnung stehen, wenn in einem der zahlreichen Sitzungssäle im Trierer Justizgebäude einmal mehr als eine Hand voll Zuschauer anwesend ist. Im Land- oder Amtsgericht wird meist unter "Ausschluss" der Öffentlichkeit getagt - und das ganz unfreiwillig. Kein Erbarmen mit Zuschauern

Gestern Nachmittag gibt es einen der wenigen Ausnahmefälle im frisch renovierten Justizgebäude. Schon um kurz nach 13 Uhr, eine Stunde vor Beginn der Verhandlung gegen eine wegen mehrfachen Diebstahls angeklagte 71-jährige Frau, drängeln sich die Zuschauer vor dem Eingang zum Sitzungssaal 74. Wer eine gute Startposition ergattert hat, wird die bis zur Öffnung der Saaltür um 13.45 Uhr auch nicht mehr verlassen. Die meisten der Anwesenden kommen aus dem selben Trierer Stadtteil wie die Seniorin, die wenig später auf der Anklagebank neben ihrem Verteidiger Platz nehmen wird. Acht Mal soll die 71-jährige allein stehende Frau zwischen Januar und März auf Friedhöfen zwischen Neumagen-Dhron und Nittel Kondolenzkarten samt Bargeld gestohlen haben, während die Beerdigungsteilnehmer am Grab trauerten. "Unverschämtheit", "Frechheit", "pietätlos", echauffieren sich die Wartenden. Als eine Justizbedienstete wenig später gnädig die Tür zum Sitzungssaal aufsperrt, stürzt sich die Menge auf die wenigen Stühle. Wer keinen Platz ergattert, wird wieder rausgeschickt. "Dann haben Sie eben Pech gehabt", meint die Justizbedienstete, als eine ältere Dame sich beschwert. Es gibt größere Sitzungssäle im Trierer Gericht, die auch an diesem Nachmittag nicht alle belegt sind. Doch auch der wenig später eintreffende Richter hat kein Erbarmen. "Es sind nur so viele Zuhörer zugelassen, wie Plätze da sind", sagt Theodor Rang und schickt die noch an der Saaltüre Wartenden auf den Gang. Derweil haben auch die Angeklagte und ihr Verteidiger den Saal betreten und sich hingesetzt. "Was haben ihre Eltern sich geplagt, krumm und buckelig haben die sich geschafft", flüstert eine Zuschauerin zu ihrer Nachbarin. "Und wenn das Dach undicht ist, muss man auch nichts machen", erwidert die andere. Die 71-Jährige hat an diesem Tag offenkundig nicht viele auf ihrer Seite. Die eher unscheinbar wirkende Frau ist in einem Trierer Stadtteil groß geworden, hat nach der Volksschule zeitlebens in der Gärtnerei ihrer Eltern gearbeitet. In deren Haus wohnt sie noch heute, lebt von 170 Euro Rente und 300 Euro Miete, "wenn der Mieter zahlt". "Sie war in finanzieller Not", lässt sie ihren Verteidiger Robert Schwambach sagen, als der Richter die grauhaarige Frau nach ihrem Motiv für die Diebstähle fragt. Und warum ausgerechnet Kondolenzkarten? "Die Idee kam ihr spontan - beim Lesen der Todesanzeigen in der Zeitung", sagt der Anwalt. Schwambach ist es auch, der zuvor "im Namen meiner Mandantin" ein umfangreiches Geständnis ablegt: "Alles entspricht der Wahrheit, und sie entschuldigt sich ausdrücklich bei den Hinterbliebenen", meint er, nachdem Oberamtsanwalt Norbert Herz die Anklageschrift verlesen hat. Zehn Monate Bewährung und 500 Euro Geldbuße lautet nach einer knappen Stunde das Urteil. Sollte die 71-Jährige noch einmal stehlen, muss sie ins Gefängnis. Die Reaktionen der Zuschauer schwanken am Ende zwischen Zufriedenheit und Skepsis.

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