Sommerreise zu sich selbst

Berlin · Vizekanzler und SPD-Chef Sigmar Gabriel befindet sich seit einer Woche auf Sommerreise quer durch Deutschland. Beim Flüchtlingsthema punktet der Instinktpolitiker bei den eigenen Parteigenossen.

Berlin. Der Bus hält. Dort, sagt Ministerpräsidentin Malu Dreyer, ist das Erstaufnahmelager, daneben der Abschiebeknast. Sigmar Gabriel guckt die vier Meter hohe Mauer hoch. "Willkommen mitten im Leben", sagt er lakonisch und hievt sich aus dem Sitz. Draußen umringt ihn sofort ein Pulk Albaner. Willkommen mitten in der Flüchtlingskrise.
Der SPD-Chef und Vizekanzler ist seit einer Woche auf Sommerreise durch Deutschland. Und hat sein Thema gefunden. Es ist auch eine Tour zu sich selbst geworden. Letztes Jahr war Gabriel bei gleicher Gelegenheit noch viel gereizter. Nun wirkt er wieder souverän. Das Thema Flüchtlinge kam ihm gerade in dem Moment zugeflogen, als seine Partei anfing, an ihm zu zweifeln. Keine Chance gegen Merkel, katastrophale Umfrageergebnisse. Will er 2017 überhaupt kandidieren? Wann schmeißt er hin?
Gerade mal fünf Wochen ist diese Diskussion her. Jetzt sagt ein Parteilinker wie Karl Lauterbach, dass Gabriel beim Flüchtlingsthema alles richtig macht, "weil er mit dem Herzen dahinter steht". Und dass der Umgang mit den Flüchtlingen wiederum ein "Herzensthema" der SPD sei.
Herz trifft Herz. Die Albaner im Erstaufnahmelager Ingelheim wissen nichts von der SPD, sie wollen eine Aufenthaltserlaubnis. Am liebsten, wenn er schon mal da ist, vom Vizekanzler persönlich. Aber der sagt gleich zu Beginn des Gesprächs, als sie sich noch leicht verbeugen: "Ist Ihnen eigentlich klar, dass die Wahrscheinlichkeit, dass sie hier bleiben können, außerordentlich gering ist?" Sie wollen das nicht hören. "Unsere Regierung hat gesagt, wir sollen es versuchen", sagt einer. Gabriel guckt den jungen, hageren Mann unerbittlich an: "Wenn andere Regierungen nicht die Wahrheit sagen, wir müssen es tun. Sie werden hier nicht bleiben können."
Der Dialog setzt sich fort, die Albaner bringen nun alle Argumente, die sie finden können. Dass sie Haus und Hof für die Schlepper gegeben haben, dass sie keine Perspektive haben, dass sie in Wirklichkeit kein Asyl wollen, sondern Arbeit. "Deutschland reich", radebrecht einer. Gabriel aber bleibt stoisch bei seiner Aussage, die übersetzt wird.
Fernduell mit Merkel


Die Sommerreise ist auch ein Fernduell mit Angela Merkel. Am Montag Gabriels Abstecher nach Heidenau, wo die Flüchtlingshasser wüteten, jetzt dieser Besuch, schon der fünfte in diesem Jahr in einem solchen Lager. Dazwischen ein großer programmatischer Namensbeitrag in einer Wochenzeitung. Gabriel streut immer wieder ein, dass er schon länger darauf hingewiesen habe, was sich da zusammenbraue.
Als Merkel am Mittwoch in Heidenau ist und erstmals selbst etwas zum Flüchtlingsthema sagt, beraumt der Sozialdemokrat in seinem Berliner Wirtschaftsministerium sogleich ein eigenes Pressestatement an. Ursprünglich hatte die SPD die Sommerreise dem Thema Gesundheit und Pflege gewidmet. In Rheinland-Pfalz, wo Parteifreundin Malu Dreyer im März wiedergewählt werden will, und in Hessen besichtigt der Vorsitzende tapfer entsprechende Einrichtungen.
Gabriel und der SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach haben die Versorgung von Kranken und Alten als eines der "absoluten Topthemen" für die nächste Wahl ausgemacht, wie Lauterbach sagt. In Rheinland-Pfalz, berichtet Dreyer, ist es das schon jetzt. Genauer gesagt: war es. Seit ein paar Wochen überlagert die Fluchtwelle alles. Gabriel ist ein Instinktpolitiker. Das Flüchtlingsthema bedeute die "Rückkehr von Politik", sagt er. Die Sache bewege die Menschen, die Verwaltung sei gefordert, und die Regierung müsse Entscheidungen treffen. Auch eine europapolitische Dimension gebe es. Das Flüchtlingsthema, sagt Gabriel, sei für Europa wahrscheinlich wichtiger als Griechenland. Vor allem, das sagt er nicht, kann Merkel es anders als Griechenland nicht für sich erobern und in Verhandlungszimmern lösen.
In Ingelheim präsentiert der SPD-Chef bereits detaillierte Vorschläge für den Koalitionsgipfel am 6. September und das Treffen mit den Ländern am 24. September. Schnellere Verfahren, mehr Personal, unbürokratischere Anerkennung für die Syrien-Flüchtlinge, aber auch mehr Klarheit gegenüber den Asylbewerbern vom Balkan. Dazu "deutlich mehr" Geld. Fünf Milliarden rechnet der SPD-Chef zusammen, davon drei für die Kommunen. Gabriel, so scheint es, will diesmal nicht so schnell zum nächsten Thema springen wie sonst so oft. Jedenfalls nicht bis Ende September.

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