Tränen im Auge des Nashorns

TRIER. Wenn Alkohol die Eltern auffrisst, bleibt für die Kinder nicht viel übrig. Diese Erfahrung müssen auch in der Region viele Kinder machen. Der Kinderschutzbund schenkt ihnen einen "Lichtblick".

Zigarettenrauch und das Gequassel einer Talkshow schlagen Ben entgegen. Leise schließt er die Haustür, seufzt und setzt den Ranzen ab. Er weiß, was er sehen wird, wenn er beim Vorbeigehen ins Wohnzimmer blickt. Ein Stück Hinterkopf über der roten Sofalehne, leere Flaschen und einen geschniegelten Talkmaster, der mit seinen Gästen über erfundene Probleme spricht. Leise, ohne hin-einzusehen, geht er an der Türöffnung vorbei. Geht gleich zum leeren Kühlschrank in die Küche. Cordon-Bleu mit Bratkartoffeln, Auflauf oder auch nur Spinat mit Spiegelei - das gibt es nicht bei ihm zu Hause. Der Herd bleibt kalt. So wie das Verhältnis zwischen ihm und seiner Mutter. Kalt und - wenn gerade nicht gestritten wird - leise. Denn über Alkoholismus spricht man nicht.Ben ist erfunden. Sein Problem jedoch nicht. Auch in der Region Trier lebt ein Teil der bundesweit 2,65 Millionen Kinder, die unter der Alkoholsucht ihres Vaters, ihrer Mutter oder beider leiden müssen.

"Die Suchtkrankheit eines Familienmitglieds betrifft immer die ganze Familie", sagt Christiane Bottermann, Leiterin von "Lichtblick", einer Abteilung des Kinderschutzbunds, die sich um Kinder Suchtkranker kümmert. Während der Süchtige alle Aufmerksamkeit auf die Sucht richte, richte der Partner alle Aufmerksamkeit auf den Suchtkranken und die Wahrung des schönen Scheins, sagt Bottermann. Für die Kinder bleibe dann nicht mehr viel übrig.

Ein Mädchen, das seit einiger Zeit das Angebot von "Lichtblick" annimmt, hat in einer "Malstunde" seine Familie als Tiere dargestellt. Sie selbst hat sich als riesigen, hölzernen Spielkegel gezeichnet. Daneben hat sie in Kinderschrift: "Hab' nicht lieb" geschrieben. Die Eltern sind in zwei gleich großen Kästchen rechts davon dargestellt: im oberen die Mutter, ein weinender Affe, über dem eine Regenwolke schwebt, und darunter der alkoholkranke Vater - ein blutendes Nashorn, dem Tränen aus dem roten Auge tropfen.

Auch wenn das Problem noch so sehr tabuisiert wird: Die Kinder merken, dass etwas in ihrer Familie nicht stimmt. "Sie schlüpfen in eine Rolle", sagt Bottermann. Manche sind besonders fleißig und versuchen, über gute Schulnoten die Familienehre zu retten. Andere fallen besonders negativ auf. Die meisten fühlen sich mitschuldig.

"Die Kinder, die zu uns kommen, haben alle einen großen Wunsch: Sie wollen, dass Mama und Papa aufhören zu trinken. Sie wollen eine ganz normale Familie", sagt Ute Isselhard-Thinnes, die wie Bottermann als Therapeutin bei Lichtblick arbeitet. Viele dieser Kinder leben isoliert, nehmen sich selbst kaum wahr und haben das Gefühl, nichts wert zu sein. "Unser Ansatz ist es, zu fragen: Wer bist du eigentlich, was wünschst du dir, Was kannst du?"

"Lichtblick" ermöglicht den Kindern Dinge, die für andere ganz alltäglich sind. Dinge, die es in ihrem Alltag aber nicht gibt: Da ist jemand, der sich die Zeit nimmt, mit ihnen zu spielen, Musik zu machen, zu malen, in den Park zu gehen - jemand mit dem sie reden können, auch über ihre größte Sorge. Doch nicht nur das Tabuthema Alkohol wird aufgearbeitet. Mit verschiedenen therapeutischen Ansätzen sollen Selbstvertrauen, Konflikt- und Beziehungsfähigkeit des Kindes gestärkt werden.

Das Ziel von "Lichtblick" ist nicht, die Sucht der Eltern zu bekämpfen. Es geht vielmehr darum, den Kindern, auch in ihrer Familie, wieder Halt zu geben. Deshalb sind auch gemeinsame Gespräche mit Kindern und Eltern fester Bestandteil des Angebots. Sie sollen bewirken, dass sich die Familienmitglieder mit anderen Augen sehen lernen. Dass die Eltern die Bedürfnisse ihrer Kinder kennen lernen und in Zukunft selbst mit ihnen spielen, einen Ausflug machen, ihnen zuhören.

",Was kann die Mama denn besonders gut?' ist eine Frage, die ich neulich gestellt habe", sagt Ute Isselhard-Thinnes. "Die kocht so tollen Milchreis", habe das Mädchen gesagt, und die Mutter sei daraufhin einen Meter über ihrem Stuhl geschwebt. So etwas könne ein Anfang sein. Neben Alkoholismus spielen oft auch Armut, Gewalt oder die Trennung der Eltern eine Rolle. Der Rucksack der Kinder sei voll, sagt Ute Isselhard-Thinnes. "Bei uns können sie ihn einfach mal abstellen."

Ideen, was für "Lichtblick" in "Meiner Burg" alles möglich wäre, gibt es reichlich. "Ein Garten wäre toll", sagt Bottermann, dann könne man im Sommer auch mal draußen arbeiten. "Und eine größere Küche" (zurzeit: zwei Quadratmeter), ergänzt ihre Kollegin. Sie wünscht sich, mit den Kindern zu kochen oder zu backen und Kindern, die zu Hause nichts zu essen bekommen, ein Mittagessen anbieten zu können. Eigene Beratungsräume stehen ebenso auf dem Wunschzettel wie ein Raum, in dem die Kinder herumtollen können.

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