Trierer Wirtschaftsexpertin „Es ist politische Pflicht, jetzt über Exit-Strategien nachzudenken!“

Trier · Die Trierer Wirtschaftsprofessorin warnt vor den Folgen eines langen Lockdowns: Wenn die Produktion wegbreche, sei Geld nur noch bedrucktes Papier. Auch eine nachhaltige Schädigung der Lebensgrundlagen einer Gesellschaft koste Menschenleben.

 Leere auf einem Mitarbeiterparkplatz. In den VW-Werken stehen die Bänder still. Stillstand herrscht wegen der Pandemie auch in vielen anderen Branchen.

Leere auf einem Mitarbeiterparkplatz. In den VW-Werken stehen die Bänder still. Stillstand herrscht wegen der Pandemie auch in vielen anderen Branchen.

Foto: dpa/Julian Stratenschulte

Keine Restaurantbesuche, keine Shoppingtouren, kein Urlaub, keine Kontakte. Bis nach Ostern bleibt alles, wie es ist. Während diese klare Ansage bei manchem Privatmensch nach aufreibenden Wochen vielleicht sogar für eine gewisse innere Ruhe sorgt, fragen sich Unternehmer zunehmend nervös, wann Dinge endlich wieder normal werden. Mit Xenia Matschke, Professorin für Internationale Wirtschaftspolitik, hat unsere Redakteurin Katharina de Mos darüber gesprochen, wie ernst die Lage ist, ob das Hilfspaket des Bundes tatsächlich hilft und wie eine Exit-Strategie aussehen könnte.

Frau Prof. Matschke: Wie ernst ist die Lage für unsere Wirtschaft?

Matschke:  Die Situation ist sehr ernst. Es ist leider wahrscheinlich, dass diese Krise die Finanzkrise von 2008 im Umfang deutlich übersteigen wird. Im Gegensatz zu damals haben wir hier ein wirkliches, realwirtschaftliches Problem: Nachdem die Lieferketten teils unterbrochen waren, folgte ein Nachfrageschock – zum Beispiel, weil Menschen aus Angst vor Ansteckung manche Dienstleistungen nicht mehr in Anspruch nehmen wollten – gefolgt von einem massiven Angebotsschock: Die Produktion in vielen Firmen, teils sogar in ganzen Branchen, wurde eingestellt, zum Beispiel bei Daimler und VW.

Was ist das größte Problem?

Matschke: Das größte Problem ist, dass niemand vorhersehen kann, wie lange diese Krise dauert und wie lange das Wirtschaftsleben lahmgelegt wird. Wir haben eine abrupte Veränderung des politischen Krisenmanagements erlebt. Dieser Umschwung hängt aus meiner Sicht ursächlich mit der am 16. März veröffentlichten Studie des Imperial College in London zusammen. In dieser Studie werden die Einschränkungen in einem Zeitraum von fünf Monaten immer mal wieder gelockert, aber erneut verschärft, sobald die Infektionskurve nach oben geht. Da all das allein nach epidemiologischen Gesichtspunkten getaktet wird, ergibt sich eine maximale Unsicherheit für Unternehmen. Wenn nach fünf Monaten der Stillstand beendet würde, würde die Infektionskurve doch wieder über die Bettenkapazität ansteigen und ihren Höhepunkt im November erreichen. Um das zu verhindern, müsste der Lockdown noch deutlich länger dauern. Die Autoren der Imperial College Studie gehen von 18 Monaten oder länger aus. Das ist wahrlich beängstigend. Es ist mehr als zweifelhaft, dass die jetzige Zustimmungsrate von 95 Prozent zu den Lockdown-Maßnahmen dann noch gelten würde.

Wie lang darf die Krise andauern, ohne unwiderruflichen Schaden zu verursachen?

Matschke: Das ist schwer einzuschätzen, aber gewiss keine 18 Monate. Auch fünf Monate würden die Wirtschaft bereits bis ins Mark treffen und massive gesellschaftliche Verwerfungen verursachen. Wir sehen jetzt schon, wie verschiedenste Branchen in arge Bedrängnis geraten. Stehen keine Erntehelfer zur Verfügung, dann wird die Ernte auf den Feldern verrotten. Gleichzeitig würden frisches Gemüse und Obst knapp. Importe sind, da die Krise weltweit auftritt, keine Lösung. Der Tourismusbranche ist der Markt weggebrochen. Der Einzelhandel ist massiv getroffen und verliert an die großen Online-Händler. In einer Studie vom 22. März schätzen führende deutsche Ökonomen, dass ein dreimonatiger Lockdown zu einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von zehn bis 20 Prozent führen würde. Jede Woche zusätzlicher Stillstand kostet weitere 0,7 bis 1,6 Prozentpunkte. Auch die Auswirkungen auf die Arbeitslosenquote wären immens.

Was halten Sie vom Hilfspaket des Bundes?

Matschke: Das Hilfspaket ist sehr wichtig und beruht auch auf wirtschaftswissenschaftlichem Rat. Mit einem Gesamtumfang von 750 Milliarden, also etwa. 22 Prozent des BIP von 2019, ist es auch riesengroß. Jedoch stammt das volkswirtschaftliche Gutachten, an dem sich dieses Hilfspaket orientiert, vom 11. März 2020. Zu diesem Zeitpunkt gab es noch keinen Lockdown, sondern nur Engpässe. Inzwischen ist die Wirtschaftskrise durch den Stillstand deutlich größer worden.

Was sind die wichtigsten beschlossenen Hilfen?

Matschke: Wichtig ist, dass für kleine Unternehmen und auch für Solo-Selbständige Zuschüsse vorgesehen sind – also Geld, das nicht zurückgezahlt werden muss. Für größere Unternehmen sind Kredite und Garantien geplant. Je nach Gewerbe ist aber nicht sicher, ob die Unternehmen nach der Krise in der Lage sein werden, die Kredite zurückzuzahlen. Wenn ein landwirtschaftliches Unternehmen mangels Erntehelfern alles unterpflügen muss, kann diese verlorengegangene Ernte nicht nachgeholt werden. Das Einkommen ist verloren.

Reicht die Hilfe aus?

Matschke: Wenn der Lockdown länger andauert, gibt es kein auf Finanzhilfen basierendes Hilfspaket, das ausreichend wäre. Keine staatliche Maßnahme könnte das auffangen. Das muss man nüchtern sehen. Es wird über das Hilfspaket Geld verteilt. Das ist kurzfristig sehr sinnvoll, um Liquiditätsengpässe zu überbrücken, aber wenn die Produktion auf Dauer wegbricht, ist unser Geld nichts anderes als bedrucktes Papier. Geld hat nur deshalb einen Wert, weil ihm reale Werte gegenüberstehen und alle darauf vertrauen, dass man reale Werte dafür bekommt. Bedrucktes Papier macht niemanden satt. Das sollte jedem bewusst sein.

Wäre es also richtig, jetzt schon über Exit-Strategien für Deutschland zu diskutieren?

Matschke: Manche meinen, man solle darüber momentan nicht nachdenken. Das halte ich für grundfalsch. Darüber nachzudenken ist gerade jetzt politische Pflicht! Wir brauchen dringend ein politisches Ringen um die richtigen, maßvollen Exit-Strategien.

Die jetzigen Maßnahmen sind von epidemiologischen Schreckens-Szenarien getrieben. Aber sie basieren auf einer miserablen Datenbasis: Wir kennen weder die wirkliche Zahl der Erkrankten noch derer, die immun sind. Und: Kennen wir die tatsächliche Sterblichkeitsrate? Die Zahlen, die täglich veröffentlicht werden, bilden bestenfalls Tendenzen ab. Virologen und Epidemiologen müssen gehört werden, aber Politik muss mehr berücksichtigen.

Was wäre aus Ihrer Sicht denn sinnvoll?

Matschke: Es muss ein Weg gefunden werden, der die besonders gefährdeten Menschen schützt, ohne die Wirtschaft komplett abzuwürgen und so die Lebensgrundlage der Gesellschaft nachhaltig zu schädigen. Die Maxime „Koste es, was es wolle, denn es geht um Menschenleben!“ greift zu kurz. Man sollte abwägen. Auch eine nachhaltige Schädigung der Lebensgrundlagen einer Gesellschaft kostet Menschenleben. Man sollte sich im klaren sein, dass in wirtschaftlichen Krisenzeiten die Sterblichkeitsrate auch ohne Corona-Virus nach oben geht: So hat sich in Griechenland die Sterblichkeitsrate zwischen 2010 und 2016 um 17,7 Prozent erhöht, so eine im Lancet veröffentlichte Studie von 2018. Die Ursachen sind vielschichtig, aber die tiefe Wirtschaftskrise war ein wichtiger Faktor. Nur eine starke Wirtschaft kann ein leistungsfähiges Gesundheitssystem tragen.

Wie wichtig wäre ein gemeinsames Handeln in der EU?

Matschke: Die Pandemie hat Schwächen in der EU gnadenlos offengelegt. Wo ein gemeinsamer Ansatz wichtig gewesen wäre, fand ein hektisches, von nationalen Interessen getriebenes Nebeneinander von Maßnahmen statt. Sehr erstaunlich war, wie eine der vier Freiheiten des europäischen Binnenmarktes, die Arbeitnehmerfreizügigkeit, von Einzelstaaten von heute auf morgen außer Kraft gesetzt wurde. Es muss jetzt dringend daran gearbeitet werden, ein gemeinsames Konzept zu finden. Mit dem von der EU-Kommission vorgeschlagenen europäischen Kurzarbeitergeld ist zumindest ein erster sinnvoller Schritt zu einer gemeinsamen Strategie gemacht.

Was können wir aus der Krise lernen?

Matschke: Wir können lernen, dass die digitale Infrastruktur wichtig und  klar ausbaufähig ist. An Schulen und Universitäten müssen schnell mehr digitale Bildungsangebote entwickelt werden. Auch geschäftliche Treffen finden jetzt online statt. Die digitalen Möglichkeiten kennenzulernen und zu verbessern, wird auch für die Zeit nach der Krise nützlich sein. Auch sollte man nach der Krise die unterschiedlichen nationalen Lösungsansätze für die Seuchenprävention gründlich analysieren. Im Augenblick ist es sicher zu früh, endgültige Schlüsse zu ziehen. Jedoch verwundert es schon, dass EU-weit zunächst kaum Gebrauch von Einreisebeschränkungen und Quarantänen gemacht wurde – nur um dann später die Freizügigkeit innerhalb der EU umso rigider zu kappen und Ausgangs- oder Kontaktsperren einzuführen. Hier kann man von Ländern wie Südkorea und Singapur lernen, die deutlich früher eingegriffen und so die Epidemiekurven sichtbar gedrückt haben, sodass sie jetzt schon wieder über Lockerungen nachdenken können.

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