"Vieles ist unklar in Fukushima"

Auch zweieinhalb Jahre nach der Atomhavarie kämpft man im japanischen Fukushima mit den Folgen der Katastrophe. Unser Berliner Korrespondent Stefan Vetter telefonierte mit der atompolitischen Sprecherin der Grünen, Sylvia Kotting-Uhl, die als erste deutsche Politikerin gestern den Ort der Kernschmelze, Fukushima Daichi, besucht hat.

Frau Kotting-Uhl, welchen Eindruck haben Sie bei Ihrem Besuch gewonnen?
Sylvia Kotting-Uhl: Auf dem Gelände arbeiten täglich 3000 Arbeiter. Ich als Besucherin war natürlich in einem abgeschirmten Bus. Die höchste Strahlung besteht mit mehreren 100 Millisievert an Block 3. Dort wird offensichtlich nicht aller geschmolzener Kernbrennstoff gekühlt, weil niemand weiß, wo genau er liegt. Bei Block 4 wurde begonnen, die Brennelemente mit einer eigens gebauten Anlage zu entfernen. Tatkräftige Anfänge - wie es ausgeht, weiß man nicht.

Der Betreiber Tepco betont stets, die Lage im Griff zu haben. Teilen Sie diese Einschätzung?
Kotting-Uhl: Das wurde mir natürlich auch erzählt. Da hieß es zum Beispiel, das Kühlwasser aus dem Abklingbecken vom Block 4 werde nun dekontaminiert, und ins Meer geratende Nuklide blieben in der direkten Umgebung. Das Problem ist aber: Täglich werden 400 Tonnen dieses Kühlwassers in Tanks eingelagert. Nicht alle gefährlichen Nuklide lassen sich aus dem Wasser entfernen. Auch weiß niemand, wo die Tanks, die sich auf dem Gelände ansammeln, am Ende hin sollen.

Ungeachtet der Katastrophe will Japan weiter an der Atomkraft festhalten. Wie erklären Sie sich das?
Kotting-Uhl: Die Atomlobby hat in Japan einen ungeheuren Einfluss. Es gibt eine sehr enge Verflechtung zwischen der Atomwirtschaft, den Medien und der Politik. In der Region Fukushima gibt es zwar eine große Mehrheit gegen ein Wiederanfahren der Atomkraftwerke. Aber das reicht nicht. Die alte Pro-Atom-Regierung wurde gerade wieder gewählt. Eine Art politischer Lethargie der japanischen Bevölkerung macht das möglich.

Deutschland steigt genau wegen Fukushima aus der Atomkraft aus. Kann das nicht ein Vorbild sein?
Kotting-Uhl: Seit Fukushima sind in Deutschland ständig japanische Expertengruppen unterwegs, um sich über unsere Energiewende zu informieren. Ich selbst habe darüber mit vielen japanischen Parlamentariern gesprochen. Das Beispiel Deutschland ist schon extrem wichtig. Vor allem die Skeptiker in Japan schauen sehr genau hin, ob die Energiewende bei uns funktioniert. Wenn sie scheitert, dann hat sie auch in Japan null Chancen.

Vielleicht fühlen sich diese Skeptiker eher bestätigt, denn durch die steigenden Strompreise ist die Euphorie über die Energiewende in Deutschland merklich abgeflaut.
Kotting-Uhl: Zweifellos haben die Japaner große Angst vor wirtschaftlichen Mehrbelastungen. Es ist allerdings auch eine schlichte Lüge, dass die Strompreiserhöhung hauptsächlich mit den erneuerbaren Energien zu tun hat. Der Strom wird dadurch sogar billiger, aber die Systematik unseres Strommarktes passt nicht dazu.
Und im schwarz-roten Koalitionsvertrag ist zuviel Kohle-Lobby am Werk gewesen, als dass sich daran etwas grundlegend ändern könnte.
Zweifeln Sie an der Unumkehrbarkeit des deutschen Atomausstiegs?
Kotting-Uhl: Der Atomausstieg ist nicht in trockenen Tüchern. Anfang des kommenden Jahrzehnts werden mit den sechs größten Atommeilern etwa 8000 Megawatt an Leistung abgeschaltet. Das ist sehr viel.
Wenn das allerdings nicht sorgsam mit erneuerbaren Energien vorbereitet ist, dann wird die Alternative die Kohlekraft sein. Und dann bekommen wir die Diskussion, ob nicht doch Atomkraftwerke besser sind als Klimazerstörung, Um das zu verhindern, muss man die Energiewende jetzt konsequent vorantreiben. Doch da sehe ich zuviel Zaudern und Zögern bei Schwarz-Rot. vet
Extra

Sylvia Kotting-Uhl (60, Foto: dpa) ist seit 2005 Mitglied des Deutschen Bundestages und seit 2009 atompolitische Sprecherin der Fraktion von Bündnis 90/Die Grünen. Die frühere Landesvorsitzende der Grünen in Baden-Württemberg wird dem linken Flügel der Partei zugeordnet. redExtra

Ungeachtet der Atomkatastrophe von Fukushima hält Japan an der Kernenergie fest. Atomenergie sei eine wichtige Stromquelle und sollte weiter genutzt werden: Auf diese Erkenntnis steuerten die Beratungen eines Regierungsausschusses zu, der einen langfristigen Energieplan erstelle, sagte Industrieminister Toshimitsu Motegi vorige Woche. Ein anvisierter Atomausstieg Japans ist damit wohl endgültig vom Tisch.dpa

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