Volksfreund-Interview: "Alle haben sich falsch verhalten, auch die Bundeskanzlerin"

Trier · Vertrauenskrise - aber keine Regierungskrise: So analysiert die Trierer Politikwissenschaftlerin und ausgebildete Journalistin Isabelle Borucki die Auswirkungen des Fall Edathy auf die große Koalition. Mit der 32-Jährigen sprach unser Redakteur Bernd Wientjes.

Wie beurteilen Sie die derzeitige Lage der großen Koalition?
Isabelle Borucki: Das ist eine ernstzunehmende Vertrauens- und Kommunikationskrise. Sowohl die SPD, als auch die CDU und die CSU müssen jetzt offenlegen, was im Oktober während der Koalitionsverhandlungen bezüglich etwaiger Ermittlungen gegen Sebastian Edathy tatsächlich gesprochen wurde.

Würden sie von einer Regierungskrise sprechen?
Borucki: Nein. Die Koalition steht nicht an einem Abgrund, sie ist handlungsfähig, und die Bundesregierung ist regierungsfähig.

Muss aus Ihrer Sicht SPD-Fraktionschef Oppermann zurücktreten?
Borucki: Wenn er zurücktritt, dann nicht allein wegen des Drucks von außen, sondern weil tatsächlich etwas dahintersteckt, er also, politisch gesehen, einen Fehler gemacht und womöglich Dienstverfehlungen begangen hat - dadurch, dass er beim Chef des Bundeskriminalamtes anrief. Oppermann wäre aber wie Friedrich ein Bauernopfer. Wobei der CSU-Politiker aber auch politisch keinen Rückhalt mehr hatte. SPD-Chef Gabriel war - wie der jetzige Außenminister Steinmeier - an der Weitergabe im Fall Edathy beteiligt. Auch in den Führungsspitzen der anderen beiden Koalitionsparteien gibt es Fehlverhalten. Einschließlich der Regierungschefin.

Wie beurteilen Sie die Rolle der Bundeskanzlerin?
Borucki: Es ist schon verwunderlich, dass seitens ihres Regierungssprechers nur gemauert wird. Und dass mit den üblichen gedrechselten Formulierungen bestätigt wird, dass die Kanzlerin ihrem Wirtschaftsminister das volle Vertrauen ausspricht - was bei ihr ja in der Regel eher das Gegenteil bedeutet. Auch ist schwer nachvollziehbar, dass sie von der Sache nichts wusste. Wir können davon ausgehen, dass es nicht bei dem einen Rücktritt bleiben wird.

Hat es aus Ihrer Sicht schon einmal einen vergleichbaren Fall gegeben?
Borucki: Ein wenig erinnert das Ganze an die Barschel-Engholm-Affäre 1987 in Schleswig-Holstein. Bis heute weiß man nicht, was hinter der Diskriminierungskampagne des damaligen Ministerpräsidenten Barschel gegen den SPD-Kandidaten Engholm gesteckt hat. Die Aufklärung wurde ja durch den mysteriösen Tod Barschels medial überlappt. Auch in diesem Fall war die Rolle der Medien eine ähnliche. Nämlich, dass unglaublich viel Druck auf die Beteiligten ausgeübt wurde.

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