Volksfreund-Serie "Raus": Warum ein Trierer Student vom Animateur zum Asketen wurde

Trier · Party unter Palmen, Kraftsport und Mobbing von Mitschülern. Aus diesem Leben ist Niklas Helbach ausgestiegen. Von den entscheidenden Weckrufen bis hin zu seiner Transformation zur Enthaltsamkeit erzählt er in der TV-Serie „Raus!“.

 Niklas Helbach frühstückt immer gleich, wie hier ein Müsli aus Leinsamen und Äpfeln. Solche Routinen sind wichtiger Bestandteil seines Alltags.

Niklas Helbach frühstückt immer gleich, wie hier ein Müsli aus Leinsamen und Äpfeln. Solche Routinen sind wichtiger Bestandteil seines Alltags.

Foto: Nicolaj Meyer

Mit einem Schluck schwerelos. Pulsschlag hoch. Hemmungen runter. Feiern, eskalieren, Spaß potenzieren: ein Sommerurlaub in Rom 2007. Als 13-Jähriger trinkt Niklas Helbach das erste Mal Alkohol. Rotwein. Im selben Sommer feiert er bei Rhein in Flammen in Bonn - bis das Telefon seiner Eltern klingelt. Notarzt. "Eingekotzt und eingepisst" finden sie ihn im Sanitätszelt, wie der 24-Jährige drastisch beschreibt. Im Sanitätszelt gibt es für ihn kein Ende mehr, doch folgen "ohne Ende" alkoholische Abstürze. Heute spricht Helbach von Askese und Buße, seiner Art von Ausstieg, der viele Jahre später folgt.

Lustig sind seine hochprozentigen Anekdoten schon, wenn er berichtet, wie er mit 20 in einem Londoner Bus nachts betrunken einschläft und am nächsten Morgen durch den Mann am Steuer unsanft geweckt wird: "Out" - "Raus", ruft der Busfahrer - nun am anderen Ende der flächengrößten Stadt Europas. "Fakt ist: Wenn man in London aufwacht und immer noch Portemonnaie und Handy bei sich hat, hat man Glück gehabt", sagt Helbach.

Mehr als 4000 Kilometer weiter südlich und einige Monate früher: Zwischen Abitur und Studium animiert ihn seine Mutter, für die Übergangszeit zwischen den Lebensabschnitten Animateur auf Lanzarote zu werden. "Morgens auf der Mauer" macht er Klubtanz mit den Gästen. Eins und zwei und ... - Drehung. Aus den Lautsprechern tönen Hits der 90er, während die kanarische Sonne gerade ihr Morgentief überwindet.

Abends spielt er bei Shows wie Tanz der Vampire mit. Da habe er oft über die Stränge geschlagen. "Dann gab's Videos von mir beim Kotzen, ich war regelmäßig Thema der Belustigung." Phasenweise feiert er auch mal nicht, sitzt dafür alleine am Strand: Meeresrauschen statt Discobeats. "Am nächsten Morgen habe ich dann trotzdem manchmal allen erzählt, wie wild ich mit anderen Fremden gefeiert hätte, die ich einfach angesprochen hätte. Ich habe Lügen erzählt. Um mich selbst cooler aussehen zu lassen." Helbach ist weit weg davon, ein Alkoholiker zu sein, solche Saufgeschichten erleben viele.

Selten ist es, mit Anfang 20 zum Asketen zu werden, sein Leben in Routinen zu zwängen - und in die Enthaltsamkeit auszusteigen.

Vollkorn statt Vollrausch Heute mag Helbach den Gedanken, sich zu reglementieren: "Der Lohn ist eine innere Ausgewogenheit, die ich über Jahre nicht gehabt habe." Verzicht bei Ernährung, Alkohol und anderen Rauschmitteln. So isst er kaum Fette, keine Fertiggerichte, wenig Zucker und nur langkettige Kohlenhydrate. Vollkorn statt Vollrausch also (eines seiner Fitness-Rezepte siehe unten).

Selbst "in einem sozialen Kontext" zügelt der aus Brohl-Lützing bei Koblenz stammende Student sich. Während des Abiturs habe er einen sehr großen Freundeskreis gehabt, in dem er sich aber selber verloren gefühlt habe. Nun bevorzuge er es zeitweise, drei, vier Tage alleine zu sein. Der Kreis der Menschen um ihn herum sei kleiner, aber insgesamt sei er glücklicher. Dazu gehört, dass er seine Facebook-Liste von 400 Freunden auf etwa 90 reduziert hat. Wer darf in der Liste bleiben? "Es muss am besten jemand sein, den ich im Ausland kennengelernt und zu dem ich keine andere Kontaktmöglichkeit habe. Ein Familienmitglied, jemand, bei dem es mir unangenehm wäre, ihn zu entfernen, oder einfach ein Freund."

Ist er bei Freunden zu Besuch, hat er nicht nur die eigenen Pantoffeln stets im Gepäck, sondern auch einen Apfel und ein paar Nüsse. Chips oder spontan eine Pizza würde er nicht mitessen - und ist so vorbereitet. Manchmal fühle er sich ausgeschlossen, wenn die anderen gemeinsam am Kneipentresen anstoßen. Er mit dem San Pellegrino daneben. Das ist ihm sein Ausstieg aber wert. Seine Einstellungen würden manche als extrem beschreiben: "Nur noch Wasser und Tee gewähre ich Einlass in meine Kehle", sagt er mit einem Grinsen.

Was denkt er über alkoholfreudige Junggesellenabschiede, wie man sie an den Sommerwochenenden in Trier sieht? "Für mich sind das Vollidioten. Wenn sie keinen belästigen, sei ihnen das gegönnt, aber ich will keiner von diesen Typen sein." Über sich und seine alkoholfreudigen Erlebnisse kann er immer noch lachen, "die Frage ist aber: Will ich der Mensch sein, der sie erzählt bekommt, oder will ich der Protagonist dieser Geschichten sein?" All das sei würdeloses Auftreten für einen Erwachsenen. Diese neue Einstellung allein katalysiert Helbachs Ausstieg allerdings nicht. Es gibt einen Weckruf, der ihn buchstäblich umhaut.

Der Weckruf "Ich bin oft weggelaufen. Ich hatte eine coole Zeit in London und als Animateur, aber es war auch eine Flucht." Nach seinem Reisejahr beginnt er zum Wintersemester 2012 ein Germanistik-Studium in Bonn, bricht es aber rasch wieder ab. "Das war eine Hals-über-Kopf-Einschreibung. Ich war mit keiner Faser bereit dazu, das durchzuziehen. Ich musste es ein paar Wochen später meinen Eltern beichten: Das wird nix." Die Unzufriedenheit über den Studienabbruch und die Erinnerung an eine wenig erfolgreiche Schulzeit brechen aus ihm heraus - das Gefühl: "Jetzt will ich pumpen und stark werden". Mit einfachen Regeln will er endlich Erfolg haben: Er nimmt den Ausweg Kraftsport.

Der Keller im Haus der Eltern wird zum heimischen Fitnessstudio. Einer Klimmzugstange folgen immer schwerere Gewichte. In einem Jahr schießt er von 74 Kilogramm Körpergewicht auf 92 Kilogramm im Winter 2013. Das sind umgerechnet rund 80 Packungen Butter oder zwei Kisten Bier. Er nimmt dafür auch (legale) Hilfsmittel wie Kreatin zu sich, einen Stoff, der zu erhöhtem Muskelfaserwachstum führt. Durch die rasende körperliche Transformation bekommt er gesundheitliche Probleme: Schwindel und hohen Blutdruck.

"Ich musste aus den Latschen kippen, bis ich den Wake-up-Call hörte." Er wird ohnmächtig, hat Schwindelattacken und leidet unter Übelkeit. "Wenn dein Körper dir mit Anfang 20 solche Signale schickt, musst du reagieren."

Askese und Buße Die bestimmenden Faktoren des jungen Mannes, der seit 2014 Englische Literatur und Medienwissenschaften in Trier studiert, sind nun "Askese und Buße". Also vom Saulus zum Paulus? Wofür büßen? "Es gibt sicherlich eine Handvoll Leute, deren Schulzeit ohne mich schöner gewesen wäre. Physisch habe ich nie jemandem etwas angetan, dafür war ich ein zu großer Hänfling. Aber ich war immer geschickt mit Worten. Weil ich andere runtermachen konnte, habe ich mich über Wasser gehalten." Es seien die "banalen Klassiker" gewesen. Witze über Dicke: "Ein korpulentes Mädchen stand vorne in der Klasse und sagte, sie lese gerne dicke Bücher. Ich sagte: ,So siehst du auch aus.'" Sich selbst als Mobber zu beschreiben sei hart: "Das schleppe ich mit mir rum."

Nach der Erkenntnis, dass der Kraftsport ihm weder gut tat noch Erfüllung brachte, folgt eine krasse Umstellung seiner Ernährung. Statt schwere Gewichte zu drücken, fängt er an mit Freeletics: Training auf Basis des eigenen Körpergewichts - wie Liegestütze - im Freien. Seinen Sport betreibt er diszipliniert. Diese Moral habe sich sukzessive auf die anderen Lebensbereiche übertragen.

Es ist nicht nur ein Wandel des Körpers und des Lebensstils, sondern auch einer der Persönlichkeit: "Ich will nicht mehr das Arschloch aus meiner Schulzeit sein." Der neue Wille spiegelt sich in der Ausbildung wieder. Seinem Abiturschnitt von 2,8 stehe durch Disziplin derzeit ein Schnitt von 1,4 im Bachelor gegenüber.

Wer aussteigt, legt oft alte Mechanismen ab - und nimmt dafür neue an. Über die Jahre hat sich Helbach einige ungewöhnliche Routinen als Gerüst seines Alltags gebaut.

Die Routinen "Ich würde mich als Medium-Keimphobiker bezeichnen. Gerade im Winter stört mich das, wenn alle krank sind und nicht auf sich achten wollen." Er fasse dann in der Universität nie einen Türgriff mit der Hand an. "Da habe ich entweder meine Hand geschickt in der Jackentasche, die ich um den Griff legen kann, oder es wird mit dem Unterarm operiert. 2015 bin ich zeitweise mit einem Notfallkit an Hygiene-Spray herumgelaufen - bis ich eingesehen hatte, dass es Quatsch ist."

Alles will er nicht verraten, ein paar Eigenarten gibt er aber doch noch preis: Er wäscht jeden Morgen und Abend sein Gesicht. Ja, und? Er tut es immer genau gleich: Zweimal Stirn, zweimal linke Wange, zweimal rechte Wange und dann zweimal unten. Der Grund? "Ich muss in meinem Flow bleiben", das gebe Sicherheit. Dabei lacht er.

Der junge Mann, der beim Feiern früher außer Kontrolle war, kontrolliert jetzt jedes Gramm. "Ich wiege mein Essen grundsätzlich ab." Er frühstücke auch stets gleich: 130 Gramm Haferflocken mit 40 Gramm Leinsamen und 330 bis 350 Milliliter Milch - je nachdem, ob die Leinsamen ganzkörnig oder geschrotet sind. "Man glaubt es nicht, aber die geschroteten Samen brauchen etwas mehr Milch." Dann erwischt er sich in seiner Präzision und lacht. "Je mehr Dinge ich gleich mache, desto mehr Freiheiten gibt mir das in Dingen, die ich kreativ machen will." Nach seinem Studium möchte er Schriftsteller werden. Er lese viel, und mancher Absatz eines Buches habe ihn nachhaltig geprägt. "So ein Gefühl möchte ich auch weitergeben können. Vielleicht auf einem einsamen Leuchtturm, darbend, nur unter dem Licht einer Glühbirne schreibend."Serie "Raus! Geschichten vom Aussteigen!

Ob sie freiwillig gehen oder keine andere Wahl haben: Manche Menschen steigen aus. Sie verlassen andere Menschen oder Situationen. Sie ändern ihre Lebensumstände - mal mehr, mal weniger radikal. Und manche werden verlassen. In ihrer Serie erzählen die Volontäre des Trierischen Volksfreundes die Geschichten dieser Menschen. Weitere Geschichten zur Serie finden sie in unserem Multimedia-Special


D rei Fragen an einen Aussteiger

Wie tickt jemand, der eine Welt verlässt und in eine neue eintritt? Der TV stellt den Aussteigern der Serie Raus! drei Fragen:
Was würden Sie machen, wenn Sie 50 Euro auf der Straße finden würden?
Niklas Helbach: "Ich würde sie nicht liegen lassen, weil ich davon ausgehe, dass ein anderer Arsch kommt und sie einsteckt. Dann könnte ich sie auch einstecken. Ich würde sie nicht behalten, weil mir der Betrag zu niedrig ist, um dafür ein schlechtes Gewissen zu haben. Und von daher würde ich es wahrscheinlich zur Polizei bringen."

Was würden Sie tun, wenn Sie einen Tag lang König von Deutschland wären?
Niklas Helbach: "Zurücktreten und den Weg frei machen für ein demokratisch gewähltes Staatsoberhaupt."

Was soll einmal auf Ihrem Grabstein stehen?
Niklas Helbach: "Sein echter Leichnam liegt im Konservatorium und wird bei ausreichendem technischem Fortschritt wiederbelebt."

Niklas Helbachs Fitness-Rezept

 Wenn der eigene Körper das Trainingsgerät ist: Niklas Helbach trainiert meist im Trierer Palastgarten. Hier macht er Klimmzüge an einem Fußballtor. Später folgen Strecksprünge. Der Sport nennt sich Freeletics.

Wenn der eigene Körper das Trainingsgerät ist: Niklas Helbach trainiert meist im Trierer Palastgarten. Hier macht er Klimmzüge an einem Fußballtor. Später folgen Strecksprünge. Der Sport nennt sich Freeletics.

Foto: Nicolaj Meyer

Zutaten: 5 Eier 150 bis 200 Gramm Spinat, 100 Gramm fettarmer geriebener Käse, 150 Gramm körniger Frischkäse, 150 Gramm Räucherlachs. Zubereitung: Ofen auf 200 Grad Umluft vorheizen. Eier, Spinat und Reibekäse vermischen und mit Salz, Pfeffer und Chilipulver würzen. Auf Backblech mit Backpapier gleichmäßig verteilen. Dann für 14 Minuten in den Ofen. Rausholen, körnigen Frischkäse auf dem Ei-Käse-Spinat-Boden verteilen, Lachsscheiben drüberlegen, zusammenrollen und 1 bis 1,5 Zentimeter dicke Scheiben abschneiden.

Zum Autor: Nicolaj Meyer (29) hat von Niklas Helbachs Geschichte mitgenommen, dass das Glück sich nicht an Normen hält, und stellt seine eigenen Routinen auf den Prüfstand.

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