Von der Waffe gegen Kommunismus zur Zeitbombe

TRIER. Im Gesundheitswesen explodieren die Kosten, und einem Heer von Rentnern und Arbeitslosen stehen immer weniger Beitragszahler gegenüber. Eine Konsequenz dieser Entwicklung: die jetzt beschlossene Gesundheitsreform. In den kommenden Jahren wird das gesamte Sozialversicherungssystem zurecht gestutzt werden müssen. Das ist neu, denn mehr als ein Jahrhundert lang prägte ständiger Ausbau die Sozialgesetzgebung. Ein Überblick.

Als das Deutsche Reich 1871 gegründet wird, herrscht Unruhe im Land: Bauern verarmen aufgrund von Missernten und ziehen in die Städte. Doch auch hier gibt es weder Arbeit noch Wohnraum. Die traditionellen Großfamilien werden auseinandergerissen, ihre Funktion als soziales Netz geht verloren. Armut wird zum Massenphänomen. Die Industrialisierung hat sich Europas bemächtigt. Alle Hoffnungen der Arbeiter liegen bei Arbeiterverbrüderungen, Gewerkschaften und Parteien, die für ihre Rechte eintreten - in den oberen Schichten geht die Angst vor dem Kommunismus um. Mit der Reichsgründung ändert sich die Lage. Kanzler Otto von Bismarck herrscht mit "Zuckerbrot und Peitsche": Einerseits verbietet er Gewerkschaften und alle sozialdemokratischen Parteien und Verbände, andererseits setzt er sich mit seinen Sozialreformen für die Rechte der Arbeiter ein, um ihren Organisationen den Nährboden zu entziehen. Innerhalb von sechs Jahren bringt er Krankenversicherung (1883), Unfallversicherung und Hinterbliebenengesetz (1884) sowie Alters- und Invalidenversicherung (1889) auf den Weg. Allerdings sind die Leistungen zunächst noch gering: Rente etwa erhält nur, wer mindestens 70 Jahre alt ist - die Lebenserwartung liegt derweil bei 40 Jahren. SBismarck muss 1890 gehen, doch seine Gesetze bleiben und werden in den folgenden Jahren und ausgebaut. Die Reichsversicherungsordnung vom 19. Juli 1911 fasst die Bismarck'schen Sozialversicherungsgesetze zusammen und passt sie aneinander an. Auch die Angestellten werden erstmals beachtet und erhalten mit dem Versicherungsgesetz für Angestellte einen Anspruch auf Invalidenrente, Altersversorgung und Hinterbliebenenfürsorge. Durch die unterschiedlichen Gesetze für Arbeiter und Angestellte wird die Masse der Arbeitnehmer erstmals klar in zwei Gruppen geteilt. S1927 erhält die Sozialversicherung eine weitere Säule: die Arbeitslosenversicherung. Das Gesetz für Arbeitslosenversicherung und Arbeitsvermittlung (AVAVG) ist eine Reaktion auf die steigende Arbeitslosigkeit, die durch die Demobilmachung der Soldaten nach dem Ersten Weltkrieg und die sich verschlechternde Wirtschaftslage entstanden ist. Allerdings beruht die finanzielle Grundlage des neuen Reichsamtes für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung auf falschen Voraussetzungen. Die Politiker rechnen mit einer Höchstzahl von 800 000 Arbeitslosen. Diese Schätzungen werden schnell von der Wirklichkeit überholt: Im Februar 1929 stehen mehr als drei Millionen Deutsche auf der Straße. Der Staat kann nicht wie geplant für die Erwerbslosen sorgen. SDie Nationalsozialisten heben die Selbstverwaltung der Sozialversicherung auf, behalten aber das Prinzip bei und führen etliche Verbesserungen ein. So gibt es unter anderem erstmals eine Krankenversicherung für Rentner . Allerdings profitieren keineswegs alle Deutschen von den Änderungen: Juden zum Beispiel erhalten keinerlei Leistungen mehr. SNach dem Zweiten Weltkrieg bleibt das Sozialversicherungssystem in Westdeutschland bestehen, die Verteilung funktioniert rasch wieder. In den 50er-Jahren erlässt der Bundestag Gesetze zur Rentenzulage, zu Sozialzulagen, zu Fremd- und Auslandsrenten . 1957 folgt eine grundlegende Reform der Rentenversicherung mit der Regelung des Umlageverfahrens: Die Einnahmen des laufenden Monats werden für die Rentenzahlungen des Folgemonats verwendet. Arbeitnehmer und Arbeitgeber finanzieren zu gleichen Teilen das Einkommen der Rentner. Das Wirtschaftswunder sorgt für eine stabile Basis von Arbeitgeber- und Arbeitnehmeranteilen, die Bevölkerung wächst rasch und stabilisiert so das Umlageverfahren. Der Kreis der Leistungsempfänger wird stetig erweitert. Flüchtlinge, Vertriebene und Aussiedler zum Beispiel werden in die gesetzliche Rentenversicherung eingegliedert. SDurch Sonderbestimmungen und Ergänzungen sind die Sozialgesetze unübersichtlich und für Laien unverständlich geworden. Die Lösung: ein einziges Gesetzbuch, das Sozialgesetzbuch (SGB) . Die Bürger können sich von 1975 an über Sozialleistungen informieren, ohne Genaueres zur Rechtssystematik zu wissen. Das Vorhaben ist bis heute nicht abgeschlossen: Zweige wie die Sozialhilfe und Kindergeld sind noch nicht im SGB integriert. SDie letzten Schritte gehen Bundesrepublik und ehemalige DDR im wiedervereinigten Deutschland gemeinsam. Mit der Lebenserwartung ist auch die Zahl der Pflegebedürftigen enorm gestiegen. Die Politik reagiert mit der 1995 in Kraft getretenen Pflegeversicherung . SZu diesem Zeitpunkt ist bereits klar, dass die Sozialversicherungssysteme tickende Zeitbomben sind. Schon die Gesundheitsreform 1988 sah erste Einsparungen vor, 1992 folgte die erste Rentenreform. Seither hat es viele Reformansätze und -vorschläge gegeben, über die die Meinungen stets weit auseinander gegangen sind - bis heute. Nur in einem sind sich alle einig: Der Weg des fortwährenden Ausbaus der Sozialversicherungen ist zu Ende.

Monika Griebeler und Inge Kreutz