Gesellschaft Von unnötigen Sorgen und vier Volkskillern

Trier · Ein Risikoforscher erklärt, warum viele Menschen sich vor dem Falschen fürchten.

 Deutschland hat mit die höchsten Gesundheitsausgaben weltweit. Foto: dpa

Deutschland hat mit die höchsten Gesundheitsausgaben weltweit. Foto: dpa

Foto: dpa/Jens Kalaene

Viele Deutsche fürchten sich vor Terroristen und Flüchtlingen. Dabei wäre es viel sinnvoller, sich davor zu fürchten, faul auf dem Sofa zu sitzen und Bier zu trinken. Unsere Redakteurin Katharina de Mos hat mit dem bekannten Risikoforscher Ortwin Renn darüber gesprochen, warum wir Risiken oft völlig falsch einschätzen. Und warum wir dies in manchen Fällen auch gar nicht anders wollen.

Wovor fürchten Deutsche sich am meisten?

ORTWIN RENN Im Moment steht an erster Stelle der Terrorismus, an zweiter Stelle der politische Extremismus in all seinen Spielarten  und an dritter Stelle kommt die Zunahme von Bedrohungen durch Flüchtlinge.

Wie vernünftig sind solche Ängste?

RENN Man muss natürlich fragen, wie viele Menschen sind wirklich betroffen? In Deutschland sterben im Jahr etwa 830 000 Menschen. Im Hinblick auf Terrorismus war 2016 ein schlimmes Jahr: Zwölf Menschen haben beim Anschlag auf den Berliner Weihnachtsmarkt ihr Leben verloren. In den Vorjahren gab es weniger Terroropfer. Im Zeitraum von 2014 bis Mitte 2017 verzeichnet der Global Terrorisms Index für Deutschland etwas mehr als 25 Todesopfer.

Es wurde zwar sehr viel über die Gewalttaten von Flüchtlingen berichtet, aber die Wahrscheinlichkeit, davon betroffen zu sein, ist sehr gering. Wenn man die Statistik zu Rate zieht, sind Terrorattacken und Übergriffe durch Ausländer bei weitem nicht die größten Gefahren. Man kann das eine oder andere subjektiv höher bewerten, aber es ist schon wichtig, die Kirche im Dorf zu lassen.

Vor welchen Gefahren würde es sich lohnen, sich zu fürchten?

RENN Es gibt vier Volkskiller. Die machen fast zwei Drittel aller vorzeitigen Todesfälle in Deutschland aus: Das sind Rauchen, Alkohol trinken, ungesunde Ernährung und Bewegungsmangel. Alles Dinge, die man kennt und die wir gerne unterschätzen. Wenn man alle vier Faktoren miteinander verbindet, dann können sie bis zu 17 Lebensjahre kosten. Das ist eine Stange Zeit, die einem verloren geht. Alle  anderen Risiken kommen bei weitem nicht an diese vier Volkskiller heran.

Und warum sind wir so unbelehrbar?

Renn Das sind Risiken, mit denen wir vertraut sind. Und Vertrautes glauben wir kontrollieren zu können. Denken sie an ungesunde Ernährung und Übergewicht. Jeder von uns kennt das: „Ja Gott, wenn ich will, kann ich ein paar Kilo abnehmen. Heute will ich nicht, aber morgen werde ich schon wollen.“ Und so bleibt es bei den guten Vorsätzen.

Jeder Raucher kennt mindestens einen, der raucht wie ein Schlot und der trotzdem 90 Jahre alt wird. Solche Ausnahmen bestimmen dann das Selbstbild.

Und das Dritte ist: Das ist alles nicht spektakulär. Wenn jemand von einem Pestizidrückstand vergiftet oder von einem Ausländer ermordet wird, dann hält das einen in Atem. Es schreibt aber niemand einen Krimi darüber, dass Leute zu viel essen und dann sterben.

Wie könnte man Menschen denn dazu bringen, ihr Verhalten zu ändern? Bringen die Warnhinweise auf Zigaretten was?

RENN Sie bringen relativ wenig, weil sie zu weit in die Zukunft gerichtet sind. In den USA waren Hinweise, dass man vom Rauchen Pickel bekommen kann, erfolgreicher als Hinweise, dass Rauchen Krebs verursachen kann. Krebs ist weit weg, wenn man 14 ist. Aber, wenn ich Pickel bekomme und meine Freundin mich nicht mehr attraktiv findet, das wirkt. Die Folgen müssen unmittelbar sein. Das ist bei vielen Risiken problematisch, weil die negativen Wirkungen oft erst nach vielen Jahren einsetzen.

Welche weiteren Gefahren gibt es, die wir gerne falsch bewerten?

RENN Wir überschätzen in der Regel alles, was mit Lebensmitteln zu tun hat. Der Lebensmittelskandal der Woche oder denken Sie nur an die Debatte um Glyphosat.

Glyphosat betrifft in Deutschland gesundheitlich  vielleicht zehn Leute, eher weniger. Im Vergleich zu anderen Lebensrisiken ist das also relativ harmlos. Dennoch gab es empörte Aufschreie und Unterschriftenlisten in der ganzen Republik.  Andere Umweltrisiken wie Feinstaub ziehen bis zu 40 000 Todesfälle jährlich nach sich – und da geht kein Aufschrei durch die Bevölkerung

Am Feinstaub sind natürlich unsere eigenen Autos schuld, der offene Kamin oder Ölheizungen. Und da kommt der Punkt, an dem man sagt: Wenn ich mich selber ändern muss, nehme ich das Risiko lieber in Kauf.

Wenn es hingegen einen Bösewicht gibt, dem ich alles in die Schuhe schieben kann, bin ich extrem risikoscheu. Dann will ich null  Risiko.

Wir wollen also lieber nicht sehen, was für uns unangenehm werden könnte?

RENN Ja, wir nennen das in der Psychologie kognitive Dissonanz: Menschen suchen nach Bestätigung für ihre eigenen Urteile und Vorurteile. Wenn sie die nicht bekommen, suchen sie nach Argumenten, die es ihnen erlauben, doch mit dem alten Weltbild gut weiterzuleben.

Wenn ich zum Beispiel überzeugt bin, dass Rauchen gut für mich ist, dann sehe ich in meiner Ahnengalerie nach, wie viele 80-jährige Raucher es in der Familie gab. Und bin danach überzeugt: Wir sind die große Ausnahme. Das gilt umgekehrt natürlich genauso: Wenn bei mir um die Ecke eine Fabrik ist, bei der komische Dinge aus dem Schornstein kommen, dann schaue ich mir Fälle an, bei denen Emissionen zu Krankheiten geführt haben und fühle mich bestätigt, dass diese Fabrik unsere Gesundheit ruiniert. Diese Verallgemeinerungen sind Teil des Problems: Ich schließe von Einzelfällen aufs Gesamte und schätze Risiken falsch ein.

Dabei hat heute dank des Internets doch jeder Zugang zu Informationen.

RENN Ja, aber dort haben wir das Problem der Echokammern: Leute gehen mit ihren Vorurteilen ins Internet und finden diese dort bestätigt. Ich nehme noch mal das Beispiel Glyphosat: Wenn ich überzeugt bin, die Industrie vergiftet uns alle, dann finde ich im Internet Tausende, die das Gleiche sagen. ­Google merkt sich, was mir gefällt, und so wandern diese alarmierenden Seiten bei späteren Suchanfragen in der Ergebnisliste nach oben. Ich bekomme genau das, was ich hören will, merke es aber nicht einmal. Es ist eines der Probleme unserer Demokratie, dass Menschen nicht mehr zugänglich sind für Argumente, weil sie sich durchs Internet ohnehin bestätigt fühlen.

Haben Deutsche vor anderen Dingen Angst als andere Nationen?

RENN Es gibt zwei Bereiche, für die Deutsche besonders stark sensibilisiert sind. Zum einen alles, was mit radioaktiver Strahlung zusammenhängt. Nach Fukushima wurden in Deutschland mehr Jodtabletten verkauft als in Japan. Das sagt etwas aus über den Grad der Verängstigung. Das andere ist Gentechnik.

Das ist doch komisch. Da haben Menschen Angst vor Genmais oder Lebensmittelzusätzen, und gleichzeitig boomt der Extremsport, die Suche nach dem Nervenkitzel.

RENN Manche suchen Gefahr, um zu zeigen, dass sie damit gut umgehen können. Dass sie Gefahren bewältigen können  und als Sieger hervorgehen. Das schafft einen starken Adrenalinausstoß, und das fühlt sich gut an. Evolutionär ist das sinnvoll: Die Dinge, bei denen man sich in der Natur gut durchsetzen kann, vergisst man so nicht. Die Hormone sorgen dafür. Das kennt jeder, der erfolgreich einen Berg besteigt oder sich gut aus einer Gefahren­situation rettet. Dann gibt es das Gefühl: Mein Gott, habe ich das gut gemacht. Manche inszenieren das. Es geht so weit, dass wir eine ganze Industrie haben, die diesen Nervenkitzel bereitstellt.

Die Lebenserwartung ist stark gestiegen, es gibt weniger tödliche Autounfälle, die Gewaltkriminalität hat abgenommen. Warum denken dennoch viele Menschen, dass alles schlimmer geworden ist?

RENN Von 10 000 Menschen erreichen 9600 ihr 60. Lebensjahr in Deutschland. Das ist in keiner geschichtlichen Phase auch nur annähernd so gewesen.

Zwei Drittel der Leute glauben trotzdem, das Leben sei gefährlicher geworden. Da steckt dahinter, dass wir in einer medialen Welt leben, in der immer über Katastrophen berichtet wird. So entsteht der Eindruck: Es wird immer schlimmer. In Wirklichkeit wird nur die Berichterstattung immer besser. Wir erfahren oft in Echtzeit, wenn irgendwo etwas passiert. Ein Problem ist, dass wir viele der neuen Gefahren sinnlich nicht wahrnehmen können – zum Beispiel Glyphosat. Dann ist die Frage: Wem vertraue ich? Wem glaube ich? Das schafft Stress.

 ARCHIV - ILLUSTRATION - Eine junge Frau trägt am 20.01.2015 in Offenbach am Main (Hessen) vor dem Fernseher eine Jogginghose. Die Jogginghose erfährt ein Revival. (zu dpa «Nicht nur für die Couch: Wissenswertes über die Jogginghose» vom 20.01.2017) Foto: Christoph Schmidt/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit

ARCHIV - ILLUSTRATION - Eine junge Frau trägt am 20.01.2015 in Offenbach am Main (Hessen) vor dem Fernseher eine Jogginghose. Die Jogginghose erfährt ein Revival. (zu dpa «Nicht nur für die Couch: Wissenswertes über die Jogginghose» vom 20.01.2017) Foto: Christoph Schmidt/dpa +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit

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 Das, was am gefährlichsten ist, jagt wenig Angst ein: Rauchen, Bewegungsmangel, ungesunde Ernährung und Alkohol sind an einem Großteil der vorzeitigen Todesfälle Schuld.

Das, was am gefährlichsten ist, jagt wenig Angst ein: Rauchen, Bewegungsmangel, ungesunde Ernährung und Alkohol sind an einem Großteil der vorzeitigen Todesfälle Schuld.

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 Rolf Rehm bewertet am 14.05.2013 im Testcenter der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft (DLG) in Gau-Bickelheim (Rheinland-Pfalz) Rotwein.  Die DLG hat in ihrer zweiten von insgesamt drei Prüfrunden rund 1200 Weine und Sekte aus Deutschland getestet und bewertet. Foto: Fredrik von Erichsen/dpa Ein Prüfer riecht +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit

Rolf Rehm bewertet am 14.05.2013 im Testcenter der Deutschen Landwirtschafts-Gesellschaft (DLG) in Gau-Bickelheim (Rheinland-Pfalz) Rotwein. Die DLG hat in ihrer zweiten von insgesamt drei Prüfrunden rund 1200 Weine und Sekte aus Deutschland getestet und bewertet. Foto: Fredrik von Erichsen/dpa Ein Prüfer riecht +++(c) dpa - Bildfunk+++ | Verwendung weltweit

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 Risikoforscher Prof. Dr. Ortwin Renn. Foto: David Ausserhofer

Risikoforscher Prof. Dr. Ortwin Renn. Foto: David Ausserhofer

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Wovor fürchten Sie sich?

RENN Ich bin psychologisch genauso anfällig wie andere. Ich habe zum Beispiel Höhenangst. Wenn man Risikoforscher ist, weiß man aber, was einen wirklich bedroht: Alkohol, Zigaretten, ungesunde Ernährung, Bewegungsmangel. Diese Dinge versuche ich zu vermeiden.

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