"Vor der Nazi-Zeit waren wir alle Wittlicher"

WITTLICH. Ein Stück Wittlich ist zurück: Der Schrank des Wittlicher Juden Emil Frank ist in der Synagoge aufgestellt. Per Mausklick beleuchtet eine mediengestützte Präsentation, für die ein Bildschirm in dem Möbel installiert wurde, ein dunkles Kapitel Geschichte. Für Maria Musseleck, die "den Emil" noch kannte, war der Besuch der Ausstellung wie eine Zeitreise in eine vergessene Welt. Eine grausame Welt, geprägt von Überlebensangst, Flucht und Massenmord.

Er war in der Feuerwehr, kämpfte im Ersten Weltkrieg für Deutschland und war ins gesellschaftliche Leben seiner Heimatstadt integriert: Die Reichspogromnacht entzog aber auch dem jüdischen Textilhändler Emil Frank die Existenzgrundlage. 1941 zur Flucht vor den Nazis gezwungen, starb er 1954 als gebrochener Mann in Amerika. Aus dem Geschäftsmann war ein Hausierer geworden, der kaum Englisch sprechend an Haustüren Schnürsenkel und Schuhputzbürsten verkaufte.Gebannt schaut sich Maria Musseleck die Präsentation an, die das Emil-Frank-Institut erarbeitet hat (der TV berichtete). "Ja, genau so stand er immer da, vor seinem Laden am Markt", erinnert sich die 86-jährige Wittlicherin. Sie ist eine der wenigen Zeitzeugen, die den einstigen Besitzer des Möbels noch persönlich gekannt hat. "Meine Mutter hat mich immer zum Emil geschickt. Für Nähseide und andere Kleinigkeiten. Jeder ist zum Emil gegangen. Er war sehr beliebt." Ihr Vater hat gerne mit dem Geschäftsmann eine Zigarre geraucht. "Nach der so genannten Reichskristallnacht war keiner mehr in dem Laden. Da hat mein Vater gesagt, dass er nun erst recht rüber ginge, der Emil sei ja sonst ganz allein", erzählt Musseleck.

Die Erinnerungen sprudeln nur so aus ihr heraus. Ihr Vater hatte Zivilcourage und ließ sich nicht einschüchtern, obgleich die Nazis über jeden seiner Besuche bei dem jüdischen Händler akribisch Buch führten. Auch Musseleck verschloss nicht die Augen, behielt sich den Mut zur Nicht-Angepasstheit. Als Quittung dafür bekam sie als Abiturientin kein Führungszeugnis, sie galt als "politisch unzuverlässig".

Eng war sie mit Trudel Wolff befreundet, einer Jüdin. "Vor der Nazi-Zeit waren wir doch alle Wittlicher", sagt sie. Der gesellschaftliche Bruch wird immer wieder in ihren Erzählungen deutlich: "Man wusste ja, dass die die Juden holen wollten. Aber was hätten wir denn machen sollen?" Eine Frage, die sie bis heute beschäftigt.

"Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen"

Das Unvorstellbare für nachfolgende Generationen greifbar zu machen, ist das Anliegen der Präsentation, die mit kurzen Filmbeiträgen, Briefen, Poesiealben, Schicksalen und geschichtlichen Abrissen fünf Stunden Information bietet. Viel Arbeit, die sich gelohnt hat. Für Maria Musseleck ist es wie eine Rückkehr in eine vergessene Zeit. Eine Zeit, in der sie viele ihrer Weggefährten verloren hat. Nur wenigen ist wie Frank oder Musselecks Schulfreundin Trudel die Flucht gelungen. Zu den paar Habseligkeiten, die das jüdische Mädchen in die Fremde mitnehmen konnte, gehörte das Kinderbuch "Peterchens Mondfahrt". Jahre später schickte sie es an Maria Musseleck: "Sie sagte, ihr Sohn versteht ja kein Deutsch, ich soll das Buch zum Andenken an unsere gemeinsame Schulzeit aufbewahren." Oft nimmt die 86-Jährige "Peterchens Mondfahrt" zur Hand - als wolle sie sich ihrer eigenen Vergangenheit vergewissern.

Musseleck: "Das war eine schlimme Zeit, das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen." 270 Juden gab es in den 30er-Jahren in Wittlich. Das Schicksal der meisten von ihnen bleibt bis heute im Dunkeln. Eine "Gedenkliste für die jüdischen Opfer der nationalsozialistischen Herrschaft in Wittlich", die das Emil-Frank-Institut zusammengestellt hat, gibt ihnen zumindest ihre Namen wieder.

Auch ein weiterer Name darf bei der Schrank-Präsentation nicht fehlen: Ursula Junk, die das Möbel einst von ihrer Tante (Haushälterin von Frank) geerbt hat und ihn vor ihrem Tod der Stadt Wittlich vermachte (der TV berichtete). Ihre Hörfunkreportage "Eine Kleinstadt, die sich nicht erinnern will" setzte 1987 einiges in Bewegung. Nicht zuletzt gab Junks Reportage über die Geschichte ihres Erbstücks den letzten Anstoß zur Gründung des Arbeitskreises "Jüdische Gemeinde Wittlich", der unter anderem die Dauerausstellung in der Synagoge auf die Beine gestellt hat.

Mit der Synagoge war auch Emil Frank eng verbunden: Er war Vorsteher der jüdischen Gemeinde, sein Vater hatte sich maßgeblich für den Bau des Gotteshauses eingesetzt. 1948 schrieb Frank an Wittlichs Altbürgermeister Matthias Josef Mehs: "Man hat mir mit KZ gedroht, mich mürbe gemacht. Ich hätte mein Haus nie verkauft, aber um mein Leben zu retten, willigte ich ein."

OFFIZIELLE PRÄSENTATION: Am Donnerstag, 8. März, wird Professor Reinhold Bohlen, Direktor des Emil-Frank-Instituts, die Präsentation offiziell vorstellen (Uhrzeit wird noch bekannt gegeben). Wer neugierig ist, kann den Schrank schon vorher zu den regulären Öffnungszeiten der Synagoge besichtigen.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort