Weihnachten ist mehr als Zimtduft

Trier · Warum der Papst nach Lampedusa fuhr: Auch die Familie von Nazareth war eine Flüchtlingsfamilie. Ein Gastbeitrag von Stephan Wahl.

Milad ist aufgeregt. In wenigen Tagen geht sein Flugzeug nach Ankara, nach drei Jahren wird er dort seine Eltern wiedersehen. Mit sechzehn hatten sie ihn aus Afghanistan weggeschickt. Nicht weil er es irgendwo besser haben sollte, sondern aus der mehr als berechtigten Sorge, die Taliban könnten ihn zwangsrekrutieren, ihn zu einem ihrer nächsten Opfer machen.

Die Entscheidung fiel den Eltern nicht leicht, ihm erst recht nicht. Aber sie hatten oft schmerzhaft erlebt, was mit denen passierte, die den Fanatikern in die Hände fielen. Mittlerweile haben sie auch ihre Heimat verlassen. Jetzt sitzt Milad mit Jomakhan und Wahid, beides auch junge afghanische Flüchtlinge und mit Rezgar, der aus dem Hexenkessel Syrien fliehen konnte, in einem katholischen Pfarrhaus. Freunde und Unterstützer sind eingeladen, der Abschied auf Zeit soll gefeiert werden.

Erst seit kurzem ist die Reise für Milad - so heißt er nicht wirklich, aus Angst um seine Familie will er seinen Namen nicht nennen und sich auch nicht fotografieren lassen - überhaupt möglich. Seine Anerkennung als Flüchtling dauerte, jetzt ist das Kapitel Flucht für ihn vorerst abgeschlossen, doch Erinnerungen an das Erlebte haben sich tief in den 19-Jährigen eingegraben.

Aus Afghanistan über den Iran sich in die Türkei durchzuschlagen war lebensgefährlich. Sieben Tage ist er auf dem Mittelmeer mit dem Boot unterwegs nach Italien - mit Trinkwasser für drei Tage! Fast verdurstet erreicht er erschöpft Süditalien, wird von der Polizei aufgegriffen, schläft auf der Straße, schlägt sich nach Frankreich durch, erreicht Paris und kauft dort ein Ticket nach Berlin, wo er nie ankommt. Eine Polizeikontrolle im Zug greift den jungen Flüchtling ohne Papiere auf.

In einer Aufnahmestelle für minderjährige Flüchtlinge stellt er einen Asylantrag, muss aber damit rechnen, doch bald nach Italien abgeschoben zu werden. Eine Folge des Dublin-II-Abkommens. Asylanträge müssen in der EU dort gestellt werden, wo die Flüchtlinge zuerst EU-Boden betreten. EU-Bürokratie.

Milad hat Glück. Er findet Asyl in einer Pfarrgemeinde, was dankenswerterweise geduldet wird. Das Kirchenasyl und die Gastfreundschaft der Gemeinde und eines Unterstützerkreises sind eine große Chance für ihn, er ist dankbar, aber fühlt sich wie ein Gefangener, der sich nicht frei bewegen darf. Er, der lernen will, kann keine Schule besuchen, kann nicht ins Kino, kann nicht zum Sport, lebt in einer Art Hausarrest.

Nach langen dreizehn Monaten klärt sich seine Situation, er bekommt die Aufenthaltsgenehmigung, geht zur Schule, ist als Flüchtling anerkannt, kann sich auf den mittleren Bildungsabschluss vorbereiten. Was er mit Leidenschaft tut. Genauso wie er mit unglaublicher Disziplin Deutsch paukt. Wenn man jetzt mit ihm spricht, ist man sprachlos über das Ergebnis. Ich stelle mir vor, ich müsste aus dem Stand Afghanisch lernen …

Und überhaupt: Wenn ich mich erinnere, was mich Ende der Siebzigerjahre im ähnlichen Alter beschäftigt hat, wie behütet sorglos ich lernen und studieren konnte, wächst mein Respekt vor Menschen wie Milad, Jomakhan, Wahid oder Rezgar. So, wie der Respekt vor der Generation meines Vaters, die kurz vor Kriegsende mit ihren jungen 16/17 Jahren in Uniformen gesteckt wurden, Dinge erlebten, über die sie oft bis zuletzt nicht sprechen konnten.

Milad und seine Freunde können das Schreckliche ihrer Vergangenheit mit ihren Helfern besprechen, stecken es nicht weg, aber drängen mit Energie nach vorne. Wenn ich sie erlebe, ihren Optimismus trotz aller Wunden, gerate ich umso mehr in Wut über manch leichtfertige Parole zum Thema Asyl und Ausländer. Wer verallgemeinert, braucht sich nicht auseinanderzusetzen. Einzelschicksalen muss man ins Gesicht sehen.
Papst Franziskus redete nicht viel, sondern fuhr nach Lampedusa, dem tragischen Symbol für zerstörte, aber auch für aufkeimende Hoffnungen von Flüchtlingen. Es war seine erste Reise, ein deutliches Signal. Wenn Milad seine Familie wiedersieht, wird bei uns Weihnachten sein.

Bei allem Zimtduft, Lametta und wunderbarem Kerzenschein erinnert die Krippe, besonders wenn sie nicht ausgeschmückt ist, an die in Bethlehem nicht willkommene Familie von Nazareth, die schon bald danach zu einer Flüchtlingsfamilie wird. Und alles, was damit zusammenhängt, erlebt. Weihnachten ist eben mehr als leuchtende Kinderaugen und Bescherung, mehr als Füße hoch und Kerze an: der im wahrsten Sinne "heruntergekommene Gott" (Wilhelm Bruners) erinnert uns daran, dass noch viel zu tun ist, damit, wie es im Gebet der Vereinten Nationen heißt, auch "unsere Kinder und Kindeskinder einst mit Stolz den Namen Mensch tragen".

Noch viel ist zu tun, ja, aber vieles ist jetzt schon möglich. Wenn man nur will …
Extra

Monsignore Stephan Wahl (geboren 1960) ist katholischer Priester und Publizist. Bundesweit bekannt wurde Wahl als Fernsehpfarrer in der ARD-Sendung "Das Wort zum Sonntag". Von 2006 bis 2012 arbeitete er als Kommunikationsdirektor des Bistums Trier, seit diesem Jahr ist er als Seelsorger in der Pfarreiengemeinschaft Waldrach (Kreis Trier-Saarburg) tätig. Als ausgewiesener Medienexperte sitzt der Theologe und gelernte Rundfunkjournalist im ARD-Programmbeirat. red

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