Weniger arbeiten, mehr vom Leben? - So könnten Arbeitsmodelle in Zukunft aussehen

Trier · Die Forderungen der Gewerkschaft IG Metall könnten die Arbeitswelt verändern, so wie die 35-Stunden-Woche vor 20 Jahren.

James Marsh erinnern die Forderungen der Industriegewerkschaft (IG) Metall an die Forderungen aus dem Jahr 1984. Damals kämpfte die Gewerkschaft mit einem siebenwöchigen Streik für die Einführung der 35-Stunden-Woche in der Metall- und Elektrobranche. Mit Erfolg. 1995 wurde die verkürzte Wochenarbeitszeit umgesetzt und Standard für viele Arbeitnehmer.

Für Marsh, Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes in Trier, könnten die aktuellen Forderungen der IG Metall ähnlich wie die 35-Stunden-Woche zu einer Veränderung der Arbeitswelt führen. Neben sechs Prozent mehr Geld will Deutschlands mächtigste Gewerkschaft für möglichst viele der rund 3,9 Millionen Beschäftigten in deutschen Schlüssel-Industrien wie Auto und Maschinenbau spürbare Arbeitszeitverkürzungen durchsetzen. In der Metallindustrie soll grundsätzlich jeder Beschäftigte das Recht erhalten, seine Wochenarbeitszeit für einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren von 35 auf 28 Stunden zu reduzieren. Nicht wenige sollen dafür nach den Vorstellungen der IG Metall zusätzlich und unbefristet einen Teillohnausgleich bekommen: Alle Schichtarbeiter, Eltern junger Kinder sowie Beschäftigte, die zu Hause Angehörige pflegen.

Mehr zum Thema: Work-Life-Balance: Mehr Freizeit statt mehr Geld

Der Trierer Soziologe Waldemar Vogelgesang geht davon aus, dass ähnliche Forderungen künftig eine wesentlich größere Rolle spielen werden bei Tarifforderungen der Gewerkschaften oder bei Gehaltsverhandlungen von Mitarbeitern. "Die Steigerung der Arbeitsmotivation hängt nicht mehr nur von mehr Gehalt ab, sondern von gehaltvoller Arbeit." Die Zufriedenheit mit dem Job und die Balance zwischen Beruf und Freizeit sei für viele Beschäftigte, vor allem für jüngere mittlerweile wichtiger als regelmäßige Lohnsteigerungen. Das habe er auch gerade aktuell im Gespräch mit Erstsemestern, die gestern ihr Studium an der Uni Trier begonnen haben, erfahren. Viele könnten sich vorstellen, so Vogelgesang, vier Tage die Woche arbeiten zu gehen, um mehr Freizeit zu haben. Und Freizeit bedeute für viele nicht nur Faulenzen. Sondern vor allem Zeit für Freundschaften, Hobbys, Fitness aber auch für Familie zu haben.

Das belegt auch eine bundesweite Befragung von 2700 Studierenden. Demnach wünschen sich 80 Prozent der Befragten eine gute Work-Life-Balance, also eine Ausgewogenheit zwischen Beruf und Privatleben, um genug Zeit für Familie, Freunde und Freizeit zu haben.
Einerseits hab sich für die Bevölkerung die Freizeit zu einem subjektiv immer wichtiger werdenden Element des Lebens entwickelt, sagt die Trierer Soziologin Michaela Schulze. Andererseits sei damit der enorme Bedeutungszugewinn des Wirtschaftssektors Freizeit verbunden.

Die Abgrenzung zwischen Freizeit und Arbeit ist jedoch in der sich wandelnden Arbeitswelt für Menschen immer schwerer zu ziehen, sagt die Soziologin Schulze. Jeder dritte Arbeitnehmer kann die Grenze zwischen Job und Privatem nicht mehr klar ziehen und fühlt sich dadurch gestresst, ergab eine Arbeitsplatz-Studie des Dienstleistungsunternehmen Sodexo, das unter anderm Catering für Behörden, Krankenhäuser, Pflegeheime und Schulen anbietet. Laut der Studie finden zwei Drittel der Befragten flexible Angebote des Arbeitgebers, die auf die persönlichen Lebenssituation der Mitarbeiter eingehen, wichtig. Vor allem unter 30-Jährige erwarten solche Arbeitszeitmodelle. Unternehmen, die ihrer Belegschaft entsprechende Angebote machten, so die Studie, könnten davon profitieren und zwar durch einen besseren Ruf und höhere Bereitschaft der Mitarbeiter die Firma weiter zu empfehlen, durch eine Verbesserung des Betriebsklimas und von Arbeitsmotivation und -leistung.

Schulze glaubt nicht, dass das die Forderung nach höheren Löhnen zweitrangig werden wird. "Verdiene ich zu wenig, kann ich mir nicht nur meine essenziellen Dinge des täglichen Lebens nicht leisten, sondern damit ist auch die Gefahr des Statusverlusts im Alter verbunden", sagt die Soziologin. Eine Studie der Jobbörse Stepstone zeigt, dass der wichtigste Antrieb für einen Jobwechsel noch immer das Gehalt ist. Knapp drei Viertel der Befragten sagt, dass mehr Geld bei der Suche nach einem neuen Arbeitsplatz wichtig ist. Gleich dahinter folgt aber auch der Wunsch nach mehr Freiheit bei den Arbeitszeiten oder bei der inhaltlichen Gestaltung des Jobs.

Und während bei den Jüngeren die Freizeit im Mittelpunkt seht, haben bei den über 50-jährigen Arbeitnehmern einer Umfrage zufolge immaterielle Werte wie Gesundheit und nahestehende Menschen eine größere Bedeutung als Geld, Karriere und Luxusartikel.

Interview HORST OPASCHOWSKI
"Freizeit hat eine neue Qualität bekommen”

Herr Opaschowski, welche Rolle spielt heutzutage Freizeit?
OPASCHOWSKI: Freizeit hat im 21. Jahrhundert eine neue Qualität bekommen, bei der es mehr um Lebensqualitätssteigerung als um Lebensstandardsicherung geht. Jenseits von Geld und Gütern stellt die frei verfügbare Zeit einen Lebenswert dar.

Immer wieder fällt in diesem Zusammenhang der Begriff der Work-Life-Balance. Was ist darunter zu verstehen?
OPASCHOWSKI: Work-Life-Balance spiegelt einen Wertewandel wider und bringt zum Ausdruck: Privat- und Berufsleben sollen im Gleichgewicht stehen. Beides ist gleich wichtig und gleichwertig. Kein Lebenswert darf einem anderen geopfert werden. Dies entspricht vor allem den Erwartungen der jungen Generation Z(ukunft), die man mit höheren Löhnen allein nicht locken und motivieren kann.

Wie muss sich die Arbeitswelt verändern?
OPASCHOWSKI: Für die Generation Z ist derzeit ein sicherer Arbeitsplatz wichtiger als eine Einkommenserhöhung. Die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit werden fließender. Der Faktor Sinn spielt eine immer größere Rolle. Eine Arbeit haben, die Spaß macht und Sinn hat, steht in der Werteskala ganz oben an. Deshalb wird auch die Verlängerung der Lebensarbeitszeit immer attraktiver - für alle Altersgruppen. Wer arbeitet und beschäftigt ist verdient Anerkennung und nicht nur Geld. Gebraucht werden und gesellschaftlich wichtig bleiben: Das ist die Antwort auf die Frage, wofür es sich zu leben lohnt.

Horst Opaschowski ist Zukunftswissenschaftler und Berater für Wirtschaft und Politik. Er leitet das Opaschowski Institut für Zukunftsforschung in Hamburg.

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