Wenn Zeit und Raum verloren gehen

MAINZ. Das Gedächtnis zeigt Lücken, Worte müssen gesucht werden und Kochen wird zum Problem: Bis zu 70 000 Menschen in Rheinland-Pfalz leiden an mittlerer oder schwerer Demenz. Die Krankheit greift zunehmend um sich – und ist doch meist ein Tabu-Thema.

Das Vergessen wird verdrängt und die Orientierungslosigkeit, der Verlust von Zeit und Raum, überspielt. Betroffene finden viele Wege, deutliche Zeichen ihrer Krankheit zu ignorieren, sich selbst und lange Zeit auch ihre Angehörigen unbewusst zu täuschen. Doch in der rasch älter werdenden Gesellschaft wird Demenz, der krankhaft bedingte Abbau der Hirnleistung, immer greifbarer. Auf bis zu 1,2 Millionen wird aktuell die bundesweite Zahl der Betroffenen geschätzt, rund 70 000 dürften es in Rheinland-Pfalz sein. Das sagte Gesundheitsministerin Malu Dreyer bei einem Demenzkongress in Mainz. Höchste Zeit, das Thema vom Tabu zu befreien, lautet die Forderung von Medizinern und Gesundheitsaufklärern. Im Land wird sich die Zahl der Erkrankten in absehbarer Zeit verdoppeln. Jeder fünfte Mensch über 80 entwickelt Demenz, wissen die Experten. 60 Prozent der Erkrankten werden zu Hause meist von Angehörigen betreut. Gerade die Entlastung für Angehörige, die oftmals trotz ihrer psychosozialen Belastung keine Unterstützung annehmen, wird zur Herausforderung und macht den Ausbau der Hilfenetze vorrangig. Die Hauptursache für die fatalen Eiweiß-Ablagerungen, die letztlich auch zu Persönlichkeitsveränderungen führen, ist das Alter. "Wir haben die Ursachen aber immer noch nicht richtig verstanden und können nicht heilen", sagt Dr. Andreas Fellgiebel von der Psychiatrischen Universitätsklinik Mainz, Leiter der Gedächtnisambulanz. Bei früher Diagnose kann der Verlauf allerdings verlangsamt werden. Bereits 30 Jahre vor den ersten Symptomen können erste - nicht nachweisbare - Veränderungen im Hirn ablaufen. Messbar sind solche Veränderungen mit relativ hoher Sicherheit erst ab Mitte 60.Eine Art der Vorsorge: Geistig rege sein

Laut Fellgiebel gibt es jedoch beeinflussbare Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Diabetes, hohe Cholesterinwerte oder auch mangelnde geistige Aktivität. Körperlich und geistig rege zu sein, ist für ihn Vorsorge. Zusammen mit Medikamenten, die eine Ablagerung von Eiweißstoffen verlangsamen, kann dies dazu führen, dass die Demenz später auftritt. Werden bislang in Krankheitsfällen erste Anzeichen durchschnittlich mit 70 Jahren registriert, können sie möglicherweise um entscheidende Jahre verschoben werden. Wichtig ist eine frühzeitige Diagnose. Hinweise können eine Störung des Kurzzeitgedächtnisses oder die Suche nach Worten sowie zeitliche Orientierungsprobleme sein. Richtig auffällig wird eine Erkrankung aber oft erst, wenn Schwierigkeiten beim planenden Handeln auftreten, wie etwa beim Kochen, oder wenn die räumliche Orientierung bei gewohnten Wegen verloren geht. Ein frühe Diagnose hilft jedoch auch, Ängste zu nehmen - etwa vor Alzheimer. So kann etwa eine gut zu behandelnde Altersdepression als Ursache ausgemacht oder aber ein ganz normales altersgemäßes Nachlassen geistiger Fähigkeiten erkannt werden. Heftige Kritik an einer unzureichenden medizinischen Versorgung von Demenzkranken übte Dr. Heiner Melchinger von der Medizinischen Hochschule Hannover. Weil Ärzte die Überschreitung ihrer Verordnungsbudgets fürchteten und immer wieder Zweifel an der Wirksamkeit der Medikamente gestreut würden, erhalte nur jeder fünfte Patient Arzneimittel, die die Krankheit aufhalten könnten.

Meistgelesen
Neueste Artikel
Zum Thema
Aus dem Ressort