Widerstand programmiert: Die Flüchtlingspläne der EU

Brüssel · Die Flucht vor Krieg, Hunger und Verfolgung treibt viele in den Tod. Auf dem Weg übers Mittelmeer ertrinken Flüchtlinge – wieder und wieder. Die EU-Kommission drängt die EU-Staaten nun zum Handeln und setzt politische Akzente. Das sorgt für Streit.

 Flüchtlinge sind nicht überall gleichermaßen willkommen: Hier werden Asylbewerber im Gesundheitsamt Trier untersucht. TV-Foto: Friedemann Vetter

Flüchtlinge sind nicht überall gleichermaßen willkommen: Hier werden Asylbewerber im Gesundheitsamt Trier untersucht. TV-Foto: Friedemann Vetter

Foto: Friedemann Vetter

Es ist ein klares politisches Signal aus Brüssel: Europa muss nach den immer wiederkehrenden Flüchtlingstragödien im Mittelmeer handeln. Zu sehr sind der moralische Druck und die Kritik an der Tatenlosigkeit der EU gewachsen. Es ist die EU-Kommission, von der dieses Signal ausgeht. Ihr Adressat sind die Hauptstädte Europas, wo manch einer das heiße Eisen Flüchtlingspolitik lieber nicht anpacken würde. Die Kommission unter Jean-Claude Juncker hat nun ein ebenso umfangreiches wie kontroverses Strategiepapier auf den Tisch gelegt, das auch umstrittene Quoten für die Verteilung von Flüchtlingen vorschlägt.

"Wir sind eine politische Kommission, und wir sind nicht dafür da, irgendwelche Gartenarbeiten zu verrichten", stellte EU-Vizekommissionschef Frans Timmermans den Machtanspruch der EU-Kommission klar. In der Flüchtlingspolitik müssten schwierige Probleme gelöst werden: "Wir wissen von vornherein, dass wir Widerstand haben werden." Aber Europa könne nicht zulassen, dass ganze Familien im Mittelmeer sterben.

Viele Staaten lehnen Quoten ab - auch aus innenpolitischen Gründen. Denn das Thema Einwanderung ist bei populistischen Parteien beliebt. In Frankreich steht die Regierung von François Hollande bei der Einwanderung unter Druck von rechts. Die osteuropäischen Länder sind nur für wenige Migranten, die häufig aus wirtschaftlichen Gründen nach Europa kommen, das Ziel. Daher glauben viele Osteuropäer, ohne Quote besser dazustehen.

Widerstand aus London

Ungarns rechtsnationaler Ministerpräsident Viktor Orban wettert seit längerem, die Regeln der EU zum Umgang mit Flüchtlingen seien "dumm". Menschenrechtsorganisationen halten es für besorgniserregend, dass Flüchtende in Länder wie Bulgarien, Ungarn oder Rumänien geschickt werden sollen.

Widerstand kommt vor allem aus Großbritannien. Innenministerin Theresa May kündigte gleich an, dass London bei dem Quotensystem nicht mitmachen werde: "Wir können nicht etwas tun, das noch mehr Menschen dazu ermuntert, sich auf diese lebensgefährlichen Reisen zu begeben." In der Flüchtlingsfrage kann die konservative Regierung unter David Cameron, der bei der Wahl jüngst eine komfortable absolute Mehrheit erzielt hatte, eigene Akzente setzen — gegen die EU. Sie nutzt damit ihre vertraglich zugesicherte Möglichkeit, in diesem Bereich an europäischen Gemeinschaftsaktionen nicht teilzunehmen (Recht auf "Opt-out"). Cameron hat angekündigt, ein Referendum über den Verbleib in der EU bis Ende 2017 abhalten zu wollen.

Somit ist die Flüchtlingsagenda der EU auch ein erster Testfall für das Verhältnis der Briten zur EU. "Großbritannien und Irland können sich dafür entscheiden oder dagegen", sagte EU-Kommissionsvize Timmermans gelassen. Auch Dänemark hat hier Sonderrechte. EU-Parlamentspräsident Martin Schulz brachte seine Kritik deutlich auf den Punkt: "Jetzt wird sichtbar, warum die Gemeinschaftsorgane hier in Brüssel behindert werden: weil nämlich einige Mitgliedsländer ziemlich kühl ihre nationalen Interessen verfolgen", schimpfte Schulz im rbb-Inforadio.

Yves Pascouau vom renommierten Brüsseler Institut European Policy Centre geht davon aus, dass es erst einmal viele öffentliche Debatten geben wird: "Großbritannien wird ein doppeltes Spiel spielen, was sehr clever ist. London wird nicht mitmachen, aber die politische Debatte in Europa bestimmen."

Ob sich daher im Rat der EU-Staaten überhaupt die nötige Mehrheit für den Quoten-Vorschlag findet, ist derzeit vollkommen offen. "Es wird ein monatelanges politisches Tauziehen geben", prognostiziert ein EU-Diplomat.
Beim EU-Gipfel Ende Juni dürfte sich abzeichnen, wie weit die Staaten in der Flüchtlingspolitik gehen wollen. Allen ist klar: Die jüngste Flüchtlingswelle ist erst der Auftakt. Im Sommer ist das Mittelmeer ruhig, dann wagen noch mehr Menschen die gefährliche Überfahrt nach Europa — getrieben etwa vom Bürgerkrieg in Syrien. 2015 erwarten Experten so viele Flüchtlinge wie nie zuvor in Europa. Der Druck steigt.

Hintergrund Deutschland soll die meisten Flüchtlinge aufnehmen

Nach dem von der EU-Kommission vorgeschlagenen Verteilungsschlüssel müsste Deutschland am meisten Flüchtlinge aufnehmen. Dabei wird zwischen Migranten unterschieden, die bereits in Europa sind, und solchen in Staaten außerhalb Europas. Beide Pläne bedürfen noch der Zustimmung der EU-Staaten und des Europaparlaments.

Verteilung von Flüchtlingen in Europa per Quote:
Deutschland müsste laut Vorschlag mit 18,42 Prozent anteilig die meisten Flüchtlinge in der EU aufnehmen. An zweiter Stelle stünde Frankreich mit 14,17 Prozent gefolgt von Italien mit 11,84 Prozent. Auf Spanien würde ein Anteil von 9,1 Prozent entfallen. Das geht aus einer Tabelle hervor, die die EU-Kommission am Mittwoch als Teil ihrer Einwanderungsagenda veröffentlichte. Die Gesamtzahl der Flüchtlinge, die von diesem Schlüssel betroffen wäre, bleibt offen. Eine Zahl will die EU-Kommission erst nennen, wenn sie Ende Mai einen konkreten Gesetzesvorschlag macht.
Die Quoten sollen die Mittelmeerländer, wo verhältnismäßig viele Bootsflüchtlinge ankommen, entlasten. Laut Tabelle müsste etwa Griechenland lediglich 1,9 Prozent aufnehmen, der kleine Inselstaat Malta nur 0,69 Prozent. Bei der Berechnung werden mehrere Faktoren berücksichtigt: die Wirtschaftsleistung des Aufnahmelandes, die Bevölkerungsgröße, die Arbeitslosenquote sowie die Zahl der bereits aufgenommenen Asylbewerber und umgesiedelten Flüchtlinge.
Der Schlüssel soll für eine gerechtere Verteilung sorgen. Bisher kommt es in erster Linie darauf an, in welchem Land ein Flüchtling erstmals den Boden der Europäischen Union betreten hat.
Der Schlüssel würde alle EU-Staaten umfassen, mit Ausnahme Großbritanniens, Irlands und Dänemarks. Diese Länder sind nicht Teil der Aufstellung, weil sie in diesem Politikbereich nicht an europäischen Gemeinschaftsaktionen teilnehmen müssen.
Für die Umverteilung kämen Menschen infrage, die schutzbedürftig sind. Die endgültige Entscheidung über ihren Asylantrag würde aber das Aufnahmeland treffen.

Neuansiedlung von 20.000 Flüchtlingen:
Die EU will außerdem Länder außerhalb Europas entlasten, die vielen Flüchtlingen etwa aus dem syrischen Bürgerkrieg Zuflucht gewährt haben. Für die geplante Aufnahme von rund 20.000 Flüchtlingen schlägt die EU-Kommission ebenfalls Quoten vor, diesmal zur Verteilung auf alle 28 EU-Staaten. Demnach würden auf Deutschland 3086 Personen oder 15,43 Prozent entfallen. Frankreich stünde wiederum an zweiter Stelle mit 2375 Menschen (11,87 Prozent). Für Großbritannien empfiehlt die EU-Kommission 2309 Personen (11,54 Prozent). dpa

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