Wie fast 6000 Flüchtlingskinder verschwinden konnten

Im vergangenen Jahr sollen nach Auskunft der Bundesregierung 5835 minderjährige Flüchtlinge in Deutschland verschwunden sein. Der Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes, Heinz Hilgers, erklärt im Gespräch mit unserer Zeitung, wie das passieren kann. Zugleich fordert er feste Aufnahmequoten speziell für unbegleitete Minderjährige. Mit Hilgers sprach unser Berliner Korrespondent Hagen Strauß.

Wie fast 6000 Flüchtlingskinder verschwinden konnten
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Herr Hilgers, wieso können Flüchtlingskinder in Deutschland einfach verschwinden?
Heinz Hilgers: Dafür gibt es unterschiedliche Erklärungen. Es kann bei der Registrierung Fehler gegeben haben. Wenn man weiß, wie hektisch es in den letzten Monaten an der Grenze zugegangen ist, ist das wahrscheinlich. Dann kann es sein, dass Kinder aus den Unterkünften einfach abhauen, weil ihre Eltern schon da sind, aber woanders untergebracht wurden. Oder Familienangehörige an anderen Orten wohnen. Und selbstverständlich gibt es Fälle, wo Kinder Opfer von Menschenhändlern wurden und zur Prostitution gezwungen werden. Das allerdings schon auf ihrem Fluchtweg nach Deutschland.
Ist das eine große Gefahr?
Hilgers: Einigermaßen sicher sind die unbegleiteten Kinder erst dann, wenn sie es bis nach Deutschland geschafft haben und vom Jugendamt in Obhut genommen wurden. Wir wissen aber beispielsweise auch, dass inzwischen jede Menge 13- oder 14-jährige Mädchen aus Eritrea, Syrien oder dem Irak in Rom an den Einfallstraßen stehen. Daran lässt sich ablesen, wie groß die Gefahr ist.

Wie kann man die Kinder besser schützen?
Hilgers: Der eigentliche Skandal ist, dass die Vereinten Nationen völlig versagen. Bei früheren Krisen war es so, dass es die UN geschafft hat, Kontingente für Flüchtlingskinder, ob verwaist oder unbegleitet, einzurichten. Diese Kinder wurden nach festgelegten Quoten auf sicherem Weg in sichere Länder gebracht. Das war gut organisiert. An dieser Stelle versagt die internationale Gemeinschaft in der jetzigen Krise. Das muss sich dringend ändern. In Deutschland haben wir das Problem zudem massiv verschärft, indem wir den Familiennachzug ausgesetzt haben.

Wie können Eltern ihre Kinder wiederfinden?
Hilgers: Das Rote Kreuz hat wieder etwas eingeführt, was wir in Deutschland noch aus der Zeit bis weit nach dem Zweiten Weltkrieg kennen: einen Suchdienst nach Flüchtlingskindern, die von ihren Eltern getrennt wurden. Durch die elektronischen Medien und die sozialen Netzwerke ist die Chance größer, sie auch zu finden. Es wäre wichtig, dass die Politik dieses Projekt finanziell unterstützt.

Viele Flüchtlingskinder sind traumatisiert. Gibt es für diese Kinder genügend Betreuungsangebote?
Hilgers: Nach jetzigem Stand haben wir insgesamt etwa ein halbe Million Minderjähriger aufgenommen. Von denen sind nach Schätzungen 20 Prozent traumatisiert. So viele Kinderpsychologen gibt es nicht für zeitnahe Therapien. Deswegen versuchen wir, möglichst viele Lehrer, Erzieher und Sozialpädagogen einzubeziehen, damit sich die Probleme der Kinder nicht verschlimmern und sie eine Entwicklungschance bekommen. has
Extra

Heinz Hilgers (67) ist seit 1993 Präsident des Deutschen Kinderschutzbundes. Früher war er Bürgermeister von Dormagen und Mitglied im nordrhein-westfälischen Landtag. red

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