Politik „Deutschland und Frankreich sollten ein Volk bilden“

Trier · Der aus dem Hunsrück stammende Europawissenschaftler Winfried Böttcher hat ein Buch herausgegeben, das zeigt, welche Visionen es im Laufe der Jahrhunderte für Europa gab. Seine eigene Vision ist die vielleicht radikalste.

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FOTO: HARALD KRÖMER DATE: 14.05.2015.Karlspreis Verleihung an Martin Schulz.JOB--------------- KEYWORDS --------------------Karlspreis

Foto: ZVA/HARALD KROEMER

Eurokrise, Flüchtlingskrise, Brexit-Drama, Rechtsruck, Populismus. Der in Morbach geborene Winfried Böttcher – einer der führenden deutschen Wissenschaftler zum Thema „Europa“ – ist überzeugt: Europa, so wie es heute ist, hat keine Zukunft. Sei es aus früheren Krisen auch gestärkt hervorgegangen – aktuell erlebe es eine System-Krise. Und Böttcher will nicht weniger als: dieses alte Europa abschaffen und eine komplett neue europäische Republik gründen. Was andere als Utopie, vielleicht sogar als Spinnerei bezeichnen, hält Böttcher für eine realistische Vision. Auch, weil er sich in seinem jüngsten wissenschaftlichen Werk intensiv damit befasst hat, welche Visionen es im Laufe der Jahrhunderte für Europa bereits gab. „Europas vergessene Visionäre. Rückbesinnung in Zeiten akuter Krisen“ heißt das 500 Seiten starke Werk. Die Lektüre zeigt: Die Idee von Europa ist weder neu noch besonders radikal umgesetzt. Der erste umfassende Europaplan stammt schon aus dem Jahr 1306. Viele Dinge, die Grundpfeiler des modernen Europas sind, wurden bereits vor Jahrhunderten bedacht: individuelle Freiheit, internationales Strafrecht- oder Völkerrecht, vereinigte Völker mit einem gemeinsamen „Tribunal“, Freihandel, Pressefreiheit und vor allem lang anhaltender Frieden. Unsere Redakteurin Katharina de Mos hat mit dem emeritierten Aachener Professor über seine Ideen gesprochen, die in Zeiten des wiedererstarkenden Nationalismus für viele höchst provokant sein dürften.

Herr Professor Böttcher, die Lektüre ihre Buches zeigt: Wir leben in einem Europa, über das Visionäre Jahrhunderte lang nachgedacht haben. Sind Sie zufrieden mit diesem Europa?

BÖTTCHER  Nein, bin ich nicht. Ich bin zwar glühender Europäer, aber ich brenne nicht für die EU, weil sie mir ein zu neoliberales Projekt ist und zu stark ökonomisch ausgerichtet. Da fehlt mir die soziale Dimension.

Was genau fehlt ihnen?

BÖTTCHER Sehr viel. Zum Beispiel ein einheitlicher Mindestlohn oder einheitliche Kranken- und Rentenversicherungen. All das ist zu sehr nationalisiert und nicht europäisch.

Welche Vision haben Sie selbst für Europa?

BÖTTCHER Ich denke, Europa muss sich neu erfinden. Zur Zeit arbeite ich an einem Buch, das erklärt, wie die Neuerfindung aussehen soll. Deutschland und Frankreich sollten aus der EU austreten und ein einziges Volk bilden.

Aha!?

BÖTTCHER Ich weiß, dass das eine geradezu absurd klingende Idee ist, aber 1807 hat ein berühmter deutscher Journalist, Ludwig Börne, sie in seiner Dissertation vertreten, dann hat mehrmals Victor Hugo darauf Bezug genommen. Wenn ich sie auf internationalen Konferenzen vertrete, dann sagen viele: „Na, jetzt ist er ganz verrückt geworden.“ Aber wenn ich dann Börne, Hugo, Adenauer oder Monet anführe, die ähnliches formuliert haben, dann werden die Kollegen ganz kleinlaut.

Und wie könnte das praktisch aussehen?

BÖTTCHER Für mich muss Europa ein Europa der Regionen sein – und nicht der Nationalstaaten. Meine Idee ist, die Nationalstaaten abzuschaffen. Die europäische Ebene dürfte nur wenige Dinge bestimmen wie Verteidigung, ein einheitliches Finanz- und Gesundheitswesen. Alles andere müsste in den Regionen entschieden werden. Dort, wo der Mensch von Politik betroffen ist, dort müsste er eine Stimme haben und das hat er heute nicht. Wir hätten in Deutschland und Frankreich ungefähr 30 Regionen. Die müssten alle völlig gleichberechtigt sein. Die Schwierigkeit wäre ein Finanzausgleich. Es kann nicht sein, dass arme Regionen arm bleiben.

Das ist aber alles gewagt!

BÖTTCHER Es ist eine Vision, aber es wäre machbar. Man muss nur beginnen. Die Ansätze, die Präsident Emmanuel Macron hatte, werden von Angela Merkel leider abgeblockt. (Anmerkung der Redaktion: Macron fordert einen Neubeginn für Europa – und zu diesem Zweck unter anderem ein eigenes Budget für die Euro-Zone, eine EU-Asylbehörde, eine EU-Eingreiftruppe, gemeinsame Rüstungsprojekte oder schnellere Entscheidungsprozesse.) Macron entwickelt sich immer mehr als Führungskraft in Europa. Merkel hat hervorragende Arbeit geleistet, aber sie wird durch den sehr konservativen Flügel der CDU abgebremst. Und das hat man im Umgang mit Macron auch gesehen.

Warum gerade diese beiden Nationen?

BÖTTCHER Ich will keinen Exklusivclub für Frankreich und Deutschland. Jedes weitere Land könnte sich natürlich anschließen. Belgien und Luxemburg würden das sicher tun. Bei den Niederlanden bin ich da nicht mehr so sicher. Sie müssten ihre nationale Souveränität aufgeben. Man hätte eine gemeinsame Verfassung und wer die akzeptiert, kann Mitglied werden. Dann gäbe es auch nicht mehr diese Verhandlungsmarathons.

Wäre das nicht der Todesstoß für die EU?

BÖTTCHER Das wäre der Todesstoß. Wenn Deutschland und Frankreich rausgehen, dann ist diese EU natürlich nicht mehr lebensfähig, denn zusammen haben sie etwa 50 Prozent der Wirtschaftskraft. Ich will den Beginn eines völlig neuen Europas. Den Beginn einer regionalisierten Europäischen Union.

Aber was hätten Deutschland und Frankreich davon?

BÖTTCHER Sie hätten eine große Überlebenschance. Wenn ich von These ausgehe, dass diese EU nicht überlebensfähig ist, dann muss ich ein Modell entwickeln, was überlebensfähig wäre. Das ist die regionalisierte Republik. Eine erste europäische Republik von unten.

Warum glauben Sie denn, dass die EU nicht überlebensfähig ist?

BÖTTCHER Weil die Nationalstaaten bestimmen, wohin sich die EU entwickelt. Und die Nationalstaaten gehen von ihren ureigenen Interessen aus. Wenn man die EU verändern will, dann müsste man zunächst mal den Rat der Staats- und Regierungschefs abschaffen. Das ist ein undemokratisches Modell. Wir haben mit Montesquieu gelernt, dass die Gewaltenteilung die Demokratie ausmacht – und was hat man getan? Man hat die Exekutive und die Legislative wieder zusammengelegt!

Was in London passiert, nährt tatsächlich Zweifel am System. Was würden Sie den Briten raten?

BÖTTCHER Ich bin ein großer Freund davon, dass sie endlich aus der EU austreten. Ich habe beim Blick in die Geschichte unter anderem schöne Shakespeare-Zitate gefunden, die zeigen, dass dieses England niemals ein politisches Europa wollte und alles verhindert hat, was dieses vorangebracht hätte. Europa wäre ohne England besser dran. Aber: Diskutiert wird der Brexit im Wesentlichen unter ökonomischen und nicht unter politischen Aspekten.

Katharina de Mos

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