Unbegrenzte Kreativität

Saarburg · Der Autist Florin Müller präsentiert seine Biografie in der Saarburger Kulturgießerei.

 Julian Bodem (links), Anne Kloth und Florin Müller während der Lesung in Saarburg. TV-Foto: Katharina Hahn

Julian Bodem (links), Anne Kloth und Florin Müller während der Lesung in Saarburg. TV-Foto: Katharina Hahn

Foto: (h_sab )

Saarburg Es klingt wie die erste Szene eines Horrorfilms. Unterernährte, verwahrloste und vernachlässigte Kinder hausen in einem rumänischen Waisenhaus. Ohne feste Nahrung und menschliche Zuneigung fristen sie ihr Dasein, leben gerade so von Tag zu Tag. Dieses kaum vorstellbare Szenario war bis zum Herbst 1998, als die Familie Müller ihn adoptierte, Florins Realität. Heute lebt er mit seinen Adoptiveltern und drei Geschwistern in Dillingen (Saarland) und feiert trotz seines Autismus erste Erfolge als Autor.
So auch an diesem Abend vor fast 70 dicht gedrängten Zuhörern in der Saarburger Kulturgießerei. Dort präsentiert er seine Biografie "Die Reise zum leuchtenden Stern oder ein Astronaut im Weltall". Mit dabei: Julian Bodem, sein ebenfalls autistischer Freund, der den Buchumschlag gestaltet hat, und die gemeinsame Therapeutin Anne Kloth. In dem Werk sind eindrucksvoll Erinnerungen, vor allem aber die Gefühle und Gedanken eines nach außen hin eingeschränkten Menschen poetisch verwoben. Wenn die einzelnen Familienmitglieder in Form eines vielstimmigen Dialogs Passagen aus dem Buch vortragen, wird die komplexe Situation, in der sich Autismus-Betroffene und deren Angehörige befinden, ganz unmittelbar deutlich. Florins Schwester Cynthia trägt Abschnitte aus seiner Sicht vor, in kunstvollen, verschachtelten Sätzen mit ausgeklügelten Sprachbildern. So bezeichnet er die Ankunft seiner Eltern in Rumänien als den ersten Sommer seines Lebens. Seine Hobbys nennt er Traumländer, deren Zugang ihm von seinem Autismus, dem "Feind im Körper", verwehrt werden kann.
Die Mutter, Birgit Müller, antwortet darauf mit der elterlichen Außensicht, mit realen Beobachtungen und ärztlichen Befunden zwar nüchterner und rationaler, aber nicht weniger liebevoll. Auch die zwischendurch eingespielten Videosequenzen gewähren Einblicke in ein schwieriges alltägliches Leben, das von klaren Strukturen bestimmt sein muss, dabei aber mit viel Liebe in die richtige Richtung gelenkt wird.
Florin kann nur über Gebärdensprache kommunizieren, hat eine manische Sammelleidenschaft und Schmecksucht. Er ordnet Gläser und Weihnachtsdekoration nach Form und Farbe sortiert in Kisten und muss daran gehindert werden, aus einem Zwang heraus Streusalz oder Klebestifte zu essen. Auch solche für Außenstehende unverständliche Handlungen werden im Buch auf eine so ausdrucksstarke Weise beschrieben, dass die Zuhörer nur beeindruckt und ungläubig den Kopf schütteln können. Auf die Frage nach seinem Lieblingsfach antwortet Florin, der an einer Fernschule gerade den Realschulabschluss nachholt, mithilfe seiner Computertastatur: "feine Literatur". Genau die hat er mit seinem emotionalen Buch jetzt auch selbst geschaffen.AUTISMUS


Extra

Als Autismus bezeichnet man eine komplexe Entwicklungsstörung. Gerade weil sie in so vielen verschiedenen Varianten und mit so vielen unterschiedlichen Symptomen auftreten kann, bezeichnet man sie auch als "Autismus-Spektrum-Störung". Man unterscheidet im Allgemeinen zwischen dem frühkindlichen Autismus, an dem auch Florin leidet, dem Asperger Syndrom und dem atypischen Autismus, wobei die Übergänge zwischen den einzelnen Formen fließend sein können. Menschen mit Autismus haben Schwierigkeiten im sozialen Umgang und tun sich schwer mit zwischenmenschlicher Kommunikation. Sie können beispielsweise nur schwer Witze verstehen und tun sich schwer, die Gefühle anderer Menschen nachvollziehen. Außerdem können sie spezielle Interessen oder besondere Begabungen entwickeln.

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