Zwei Jahre nach Tankstellenmord Aus dem Leben gerissen
Alex war 20, als er brutal aus dem Leben gerissen wurde – erschossen bei der Arbeit in der Idar-Obersteiner Aral-Tankstelle, wegen eines Streits um die Maskenpflicht. Zwei Jahre ist das nun her. Zwei Jahre, die für Alex Mutter unfassbar schmerzvoll waren. Wir haben Michaela Rech getroffen. Eine Frau, die viel Stärke ausstrahlt. Aber auch unendliche Trauer.
Sie nippt an ihrem Kaffee, zieht nachdenklich an der Zigarette: „Ich hätte mehr Zeit mit ihm verbringen sollen, ihm öfter sagen, dass ich stolz auf ihn bin und ihn liebe. Und wir hätten nicht wegen Kleinigkeiten streiten sollen. Das sind die Vorwürfe, die ich mir mache, und die werden bleiben.“ Das sagt Michaela Rech, deren 20-jähriger Sohn Alex am 18. September 2021 mit einem Kopfschuss aus dem Leben gerissen wurde.
Fast zwei Jahre ist das her. Der „Idar-Obersteiner Tankstellenmord“ – jeder weiß, was damit gemeint ist. Viele wissen noch genau, wo sie waren, als sie davon gehört haben. Aber was heißt das für die 43-jährige Mutter des jungen Mannes mit dem charmanten Lausbubenlächeln?
Was ihr geblieben ist: Baum Nummer 731 im Ruheforst Niederhosenbach. Da ist Alex’ Urne beigesetzt. 1000 Bilder von ihm auf dem Handy und noch mehr Erinnerungen im Herzen: bei der Einschulung, der Knirps, der Faxen macht, später Selfies mit Sixpack und strammem Bizeps vor dem Spiegel – stolz und selbstbewusst. Ein cooler Typ, der das Leben liebt und den die anderen mögen.
Dann ist da auch das Foto seines Leichnams im Sarg – ganz friedlich liegt er da, mit einem weißen Rollkragenpulli. Michaela Rech schaut sich die unzähligen Bilder hin und wieder an – lacht, weint. Das muss sein, um zu begreifen, was nicht zu begreifen ist. Ein damals 49-Jähriger hat ihren Sohn an der Aral-Tankstelle in Oberstein nach einem Streit über das Tragen einer Schutzmaske erschossen. Einfach so. Ungezählte Tränen, die sie kaum mehr zu spüren scheint und die sie fast verschämt wegwischt, gehören seitdem zu ihrem Leben. Eine Halskette mit einem kleinen silbernen Schlüssel und einem Herzen – das Alex’ Daumenabdruck, den der Bestatter noch genommen hatte, ziert – trägt sie immer. Eine große Kiste, prall gefüllt mit Karten und Briefen, die Mitgefühl bekunden, gibt es im Keller. Das ist das, was bleibt.
Jetzt, im September – wenn der Sommer langsam geht, der Herbst schon zu riechen ist, wenn die Sonne goldenes Licht mitbringt – dann ist das, was ohnehin in jeder Sekunde da ist, noch ein Stück näher für Michaela Rech, Alex’ Mutter – jene dunklen Stunden vor zwei Jahren, die eine ganze Stadt, ein ganzes Land in tiefe Trauer versinken ließen und für sie ein ewiger Schatten im Herzen sein werden.
Wir sitzen bei Michaela Rech daheim am Wohnzimmertisch. Fotos von Alex an der Wand. Der Schatten und der Schmerz sind greifbar. Sie hat ihre Geschichte schon hundertmal erzählt, aber es wird nicht leichter. Noch immer ringt die Bürokauffrau um jedes einzelne Wort.
Am 18. September 2021, einem Samstag, liegt sie abends im Bett. Alex hatte sie den ganzen Tag nicht gesehen und auch nichts von ihm gehört. Nicht weiter ungewöhnlich bei einem jungen Mann, der mit 20 nicht mehr an Mamis Rockzipfel hängt. Abends im Bett bekommt sie nebenbei mit, wie in der regionalen Blitzer-WhatsApp-Gruppe plötzlich reihenweise Nachrichten gepostet werden: Schießerei an einer Tankstelle in Idar-Oberstein.
Und dann kommen die ersten Fotos. Michaela Rech sieht, dass es sich um die Aral-Tankstelle in Oberstein handelt. Dort jobbt Alex, um sich jene Wünsche zu erfüllen, die man als BBS-Schüler und Technikfan mit dem Ziel, Abitur zu machen, so hat: das neueste Smartphone, Taschengeld zum Partymachen im „Granada“, einer Disco in Idar-Oberstein, mit der Clique zelten gehen …
Michaela Rech stockt der Atem, mit ihrem Ehemann fährt sie sofort los und versucht, in Erfahrung zu bringen, ob Alex Dienst hat oder sonst irgendwo unterwegs ist. Vergeblich, sie erreicht niemanden. Von der Obstersteiner Struth bis zur Tankstelle in direkter Nachbarschaft zur Polizeidienststelle sind es nur wenige Minuten, die sich wie Stunden anfühlen. Und währenddessen schlägt der Zeitgeist gnadenlos zu: Die 43-Jährige erhält die ersten Beileidsbekundungen zum Tod ihres Sohnes via Facebook … die Stunde null.
An der Tankstelle angekommen, sieht sie das Polizeiaufgebot, Krankenwagen, Blaulicht, Chaos. Es dauert, bis ein Polizeibeamter ihr schließlich mitteilt, dass ihr einziges Kind erschossen worden ist. „‚Erschossen, was heißt das?‘ Das habe ich gefragt. ‚Angeschossen?‘“, erinnert sie sich. Als ihr bewusst wird, dass ihr Sohn gerade getötet wurde, sinkt sie auf den Bürgersteig, die Beine geben nach, sie kniet.
Die Stunden danach verschwimmen in ihrer Erinnerung. Wie im Nebel. Irgendwann sei man dann nachts zu Hause gewesen. Direkt am Sonntag Morgen beginnt die Jagd der zum Teil wenig zimperlichen Medienmenschen: Sie lauern vor dem kleinen Haus der Rechs. Die Tage nach der sinnlosen, brutalen Tat: Schock, Trauer, Sprachlosigkeit, Entsetzen. Vor der Tankstelle werden Blumen und Briefe abgelegt, Kerzen angezündet. Die Menschen versuchen, das Geschehene zu begreifen. „Wir haben uns gefragt, wie man damit jetzt umgehen soll. Freunde, Familie, Arbeitskollegen: Wir hatten großartige Unterstützung. Dafür bin ich zutiefst dankbar.“
Dass sich der Täter am Sonntag danach gestellt hatte, bekam Rech erst einmal gar nicht mit. Und manche in ihrem Umfeld hatten ihre Wut nicht mehr unter Kontrolle, man solle diesen Typen umbringen. „Davon halte ich nichts. Das bringt Alex ja nicht zurück.“ Dass andere den Täter im Netz feiern, hat sie mitbekommen: ohne Worte.
An der bewegenden Abschiedsfeier am 7. Oktober in der Messe Idar-Oberstein nehmen rund 430 Menschen teil. Ihr Sohn sei ein lebenslustiger, liebevoller, manchmal chaotischer Mensch gewesen, und so solle er auch in Erinnerung bleiben, sagt sie. Und Michaela Rech zeigt eine Größe, die sprachlos macht. Sie prägt einen Satz für die Ewigkeit: „Hass verbittert nur, die Liebe ist so viel mehr wert.“
Ja, das sehe sie auch heute noch so. Die Rede habe sie selbst geschrieben. Und nein: Sie habe keine Medikamente zur Beruhigung genommen. „Ich bin eigentlich niemand, der gern vorn im Rampenlicht steht. Aber das wollte ich schaffen, für Alex.“ Einen Tag nach der Trauerfeier wird Alex im Ruheforst in aller Stille beigesetzt, 60 Gäste nehmen Abschied: nur Familie und Freunde, zu denen sie noch heute Kontakt hat.
Von März bis September 2022 zieht sich der Prozess am Landgericht Bad Kreuznach hin: schlimme Stunden, die sie nur überstanden habe, weil sie als Nebenklägerin mit Ruth Streit eine fantastische Anwältin an ihrer Seite gehabt habe. „Sie hat mehr als einmal meine Hand gehalten, wenn es zu für mich unerträglichen Situationen kam. Wir sind immer noch in Verbindung.“ Der Täter habe kaum Blickkontakt zu ihr gesucht.
Die Verteidiger habe sie als unsäglich empfunden: „Die reine Show. Wir hatten Spitznamen für sie: das Frettchen oder Voldemort.“ Auch das Entschuldigungsschreiben des Täters ist für sie letztlich unerheblich: „Das hat er ja an alle möglichen Stellen geschickt.“ Da stecke für sie reine Berechnung und nicht etwa Reue dahinter.
Der 50-Jährige wurde am 13. September 2022 zu lebenslanger Haft verurteilt. Das Landgericht Bad Kreuznach wertete die Tat als Mord, stellt allerdings nicht die besondere Schwere der Schuld fest, sodass ein Haftende nach 15 Jahren möglich ist. „Da frage ich mich schon, wann die Schwere der Schuld denn überhaupt gegeben ist“, sagt Rech und schüttelt den Kopf. „Manchmal denke ich darüber nach, ihn mal im Knast zu besuchen. Ich würde ihn gern fragen, wie man so hassen kann, was da eigentlich bei ihm schief gelaufen ist.“ Sie sei ebenfalls ein emotionaler Mensch, der wütend werden könne: „Aber ich schieße doch auf niemanden. Verzeihen kann ich diesem Mann nicht. Wie sollte das auch gehen?“
Die Videoaufzeichnung der Tat hat sie nie gesehen: „Das hätte ich nicht verkraftet.“ Nach dem Urteil fällt die Frau in ein Loch: „Das hatten mir viele prophezeit. Es gab ja jetzt nichts mehr zu tun. Für Alex.“ Schmuckstücke mit Fingerabdrücken des Sohnes lässt sie kreieren – für sich selbst, Freunde und Familie. Einen Küstenmammutbaum, der bis zu 100 Meter hoch werden kann, hat sie für Alex gepflanzt – während im Freundeskreis deren Kinder heiraten und die Freunde zu Großeltern werden. „Das hätte ich so gern erlebt. Alex war total kinderlieb“, erzählt Michaela Rech, deren Ehe nach der Tragödie zerbrach. Es gibt einen neuen Partner in ihrem Leben.
Phasenweise habe sie im Zimmer ihres Sohnes geschlafen, um ihm ganz nah zu sein. Und manchmal hört sie das Knirschen der Treppenstufen, wie früher, wenn Alex abends noch wegging oder spät heimkam. Die Tage habe sie darüber nachgedacht, das Zimmer zu räumen. Es werde Zeit. „Das wird noch einmal schwer. Ganz schwer.“ Jene Leichtigkeit und Fröhlichkeit, die sie selbst einmal in sich getragen habe, sei nicht mehr da und blitze nur selten auf.
Therapeutische Hilfe hat sie angenommen, mit mäßigem Erfolg: „Wobei man ja auch sagen muss: Ich sprenge mit meiner Geschichte jede Gruppentherapie. Da sitzen welche, die über ihren Job jammern oder sonst etwas Banales, und dann komme ich – als Mutter des Jungen, dem an der Tanke in den Kopf geschossen wurde.“