Am Abgrund des Lebens

TRIER. (red) Ottilie Kohn erlebte das Kriegsende im luxemburgischen Walferdingen. Hier ein Auszug aus ihren Tagebuch-Aufzeichnungen, die die Ereignisse im Januar 1945 wiedergeben.

Walferdingen, 9. Januar 1945 . Da man doch noch kein Ende des Krieges sieht und ich nicht weiß, ob mich der Liebe Gott so lange leben lässt, dass ich alles mündlich sagen kann, so will ich es hier aufschreiben. Als ich am 1. September die ersten Amerikaner hier sah, dachte ich, jetzt ist der Krieg doch wohl bald zu Ende, aber heute, vier Monate später, sieht man noch kein Ende. Es ist so schönes Wetter, und ich fühle mich etwas besser, so will ich auch ein bisschen schreiben. Den Krieg haben wir in allernächster Nähe mitgemacht. Ein paar Stunden nur, und Deutsche und Amerikaner wären hier zusammen gestoßen. Auch eine V 1 (Boden-Boden-Rakete der Deutschen, Anm. d. Red.) ist zehn Minuten von hier niedergegangen. Sie fiel ins Feld, hat aber sehr viel Schaden angerichtet. Im weiten Umkreis waren die Fenster kaputt. Durch den letzten Einbruch, den die Deutschen hier unternahmen, ist fast der ganze Ösling zerstört worden, auch das Städtchen Wiltz. Die nächsten Angehörigen von der guten Mutter (der Vorsteherin des Altenheims), ihre Schwester und deren Kinder, haben alles verloren. Nur das, was sie auf dem Leibe hatten, haben sie noch. Tagelang haben sie im Keller gesessen. Dann haben sie sich hierher durchgeschlagen. Mitten im Winter, der Schnee lag einen dreiviertel Meter hoch. Der General Paulus (der deutsche General Friedrich Paulus, Anm. d. Red.), der bei Stalingrad in russische Gefangenschaft geriet, hat am Radio gesprochen, dass die Gefangenen so gut behandelt würden. Die Soldaten, die in amerikanischer Gefangenschaft sind, können sich nicht genug beloben, wie gut sie behandelt werden. Sie raten allen, die noch im Krieg sind, sie sollen sich ergeben. Wir sind ja alle die Jahre mit Lug und Trug behandelt worden. Hier in Luxemburg, die blieben immer auf dem Laufenden, weil sie den Sender gehört haben, was uns ja schwer verboten war, und so taumelt das deutsche Volk seinem Abgrund zu. Was der Gauleiter Simon (Gustav Simon war Leiter des "Gau Moselland" und "Chef der Zivilverwaltung" Luxemburg, Anm. d. Red.) hier angerichtet hat, ist ja nicht zu beschreiben. Der hat gemeint, mit Terror und Brutalität die Luxemburger klein zu bekommen, aber das Gegenteil hat er erreicht. Nach den Zeitungsberichten ist der Krieg bald zu Ende. Nun werden wohl die Gottesleugner bald einsehen, was sie angerichtet haben. Allgemein wird anerkannt, dass der deutsche Soldat ein tüchtiger Soldat ist und auch das deutsche Volk viel gelitten hat. Wir haben doch jetzt 30 Jahre Krieg mit Ausnahme die paar Jahre vor dem Krieg, und der konnte mit gutem Willen beiderseits vermieden werden. Habe Euch noch gar nicht geschrieben, wie das war, als die Deutschen hier fort mussten. Das ging Hals über Kopf, dann eine halbe Stunde, nachdem sie fort waren, sind auch die Amerikaner hier gewesen. Vorher haben sie aber noch alle Brücken in der ganzen Umgebung gesprengt. In der Zeitung habe ich gelesen, dass der Göbbels (Josef Göbbels, Propagandaminister Hitlers, Anm. d. Red.) immer noch auf einen Sieg hofft, aber das ist doch der reinste Wahnsinn, ein unnötiges Hinmorden. Hier in Luxemburg ist die Meinung, das arme Volk soll einfach nicht mehr mitmachen. Ottilie Kohn, geborene Brach, wurde am 20. April 1865 in Ruwer geboren. Sie starb am 8. November 1945 in Trier.

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