Anders als alle Vorurteile

Trier · Wer Trier-Nord erwandern will, muss kein Leistungssportler sein. Der Stadtteil ist so groß wie flach. Selbst in gemütlichem Tempo erreicht man im Laufe eines Tages alle Viertel und Quartiere. Nur beim Überqueren der verkehrsgesättigten Straßen ist Eile angesagt, wenn man überleben will.

 Ein Original im Stadtteil: Rosi Sahler in ihrer Kneipe „Aom Ecken“. TV-Foto: Archiv/Christiane Wolff

Ein Original im Stadtteil: Rosi Sahler in ihrer Kneipe „Aom Ecken“. TV-Foto: Archiv/Christiane Wolff

I.
Es gibt Bahnhöfe, die eine Art Strahlkraft für ihre ganze Umgebung entwickeln. Die Zentral-station als Drehscheibe. Menschen betreten die Stadt, fühlen sich zu Hause, gehen auf Entdeckungsreise. Der Trierer Hauptbahnhof weckt solche Gefühle nicht. Eher Flucht-Instinkte. Nix wie weg, auf dem schnellsten Weg in die Einkaufstempel der Innenstadt. Das ist Pech für Trier-Nord. Der Bahnhof könnte ein Entrée sein, eine Lebensader für den Stadtteil. Stattdessen mühten sich städtische Bürokraten, auch noch eines der letzten Lebenszeichen in Gestalt einer Caféterrasse aus dem Weg zu räumen. Konzepte für das Bahnhofsviertel gibt es viele, geändert hat sich wenig. Hässliche Gebäude, verblassende Fassaden. Da herrscht noch nicht einmal der Charme des Verfalls.
II.
Dabei beginnt keine Fußballfeldlänge vom Bahnhof entfernt der Weg in einen außergewöhnlichen Stadtteil. 50 Meter in die Göbenstraße hinein, und man vergisst binnen Sekunden, dass man gerade noch am hektischen Alleenring gestanden hat. Mehrgeschossige Häuser mit hübschen Vorgärten säumen den Weg, ohne wuchtig zu wirken. Manche von ihnen finden sich in der "Datenbank der Kulturgüter in der Region Trier". In den Erdgeschossen mit ihrem gemütlichen Vorstadt-Flair wohnen Bürger, von denen die meisten mit dem Begriff "wohlsituiert" nicht falsch beschrieben wären. Unterm Dach, natürlich ohne Fahrstuhl, residieren oft Studenten. Der Mix macht\'s. Hier gibt es noch, was andernorts längst verschwunden ist: Das kleine Café Spitz etwa, wo sich einst zur Mittagszeit die Briefträger versammelten, um nach absolvierter Tour nicht zu früh ins nahe gelegene Postamt zurückzukehren. Oder nebenan in der Thebäerstraße die wunderbare Kerzenfabrik August Hamacher, Handfertigung im Dienste des Herrn seit 1810, wo hinter einem schönen Rundportal der australische Schäferhund Max mit zwei beherzten Damen den Wachswarenladen schmeißt. Ein Eldorado für Entdecker.
III.
Vor der Kirche St. Paulin liegt eine hübsche Grünfläche. Das wäre ein ideales Naherholungsgebiet, sinniert Ortsvorsteherin Maria Duran Kremer. Wäre. Doch da gibt es die Legende von den christlichen Märtyrern, die hier niedergemetzelt worden sein sollen, was der Grünfläche den Namen "Märtyrerwiese" eingebracht hat. "Wir können doch nicht auf den Knochen unserer Ahnen spielen", sagt Duran Kremer, die aus dem katholischen Portugal stammt. So wacht die Statue des heiligen Paulinus, einst vom legendären Pastor Vierbuchen persönlich gestaltet, über einen meist leeren Platz.
IV.
Das hat aber auch damit zu tun, dass es ein paar Straßen weiter westlich und einige Ampel-Wartezeiten später zwei großzügige Grünflächen gibt. Sie liegen direkt nebeneinander, könnten aber kaum unterschiedlicher sein. Da ist das lärmige Moselstadion, wo Schulklassen, Betriebsmannschaften, Vereine und Freizeitkicker von früh bis spät ihrer Kicker-Leidenschaft frönen. Wer genauer hinschaut, entdeckt in der Dauer-Baustelle mehr als nur ein paar Felder zum Austoben. Zum Beispiel das kleine, liebevoll gestaltete Vereinsheim des Vereins Alemannia Trier. Nach fast 50 Jahren im Spielbetrieb musste man im Februar Insolvenz anmelden. Jetzt helfen alle, damit ein Nachfolgeverein an den Start gehen kann. "Wir brauchen den Club", sagt die Ortsvorsteherin. Die Alemannia ist kein Verein für Großkopferte und hat deshalb eine wichtige soziale Funktion.
V.
Gleich nebenan ist man über solche Probleme längst hinweg. Der Hauptfriedhof ist ein riesiges Areal, das eher die Atmosphäre eines Parks ausstrahlt als die eines Totenackers. Breite Wege, alte Grabmäler, imposante Tore: Wer die Bereiche meidet, in denen heutzutage noch Beerdigungen stattfinden, könnte sich leicht auf den Père-Lachaise in Paris versetzt fühlen. Mittendrin eine alte Kapelle, kühl, lauschig. Aber die Romantik endet, wenn man den erbärmlichen Zustand der Wände sieht, den herunterblätternden Putz, den muffigen Schimmelgeruch. Selbst das ärmste Dorf in Südamerika würde seinen Toten-Gedenkort nicht so herunterkommen lassen.
VI.
Wer etwas über Vorurteile lernen will, sollte die Thyrsusstraße von oben nach unten entlanglaufen. Für viele in Trier ist dieser Straßenname das Synonym für "sozialer Brennpunkt". Und tatsächlich findet man im oberen Bereich manche Anzeichen von Verwahrlosung, wie verbretterte Fenster oder Müll. Eine Wunde im Stadtbild. Doch schon wenige Meter weiter wandelt sich das Bild: einfache, aber gepflegte Häuser, hübsche Vorgärten. Je weiter man auf der langgezogenen Straße kommt, desto ansehnlicher wird das Ambiente. Unten, wo die Thyrsusstraße die Parkstraße kreuzt, die übrigens ihrer Namensvetterin aus dem Monopoly-Spiel alle Ehre macht, ist sie ein regelrechtes Schmuckstück. Und kaum einer merkt\'s.
VII.
Mit Vorurteilen kennt sich auch Maria Ohlig aus. Die Quartiersmanagerin sitzt in einem bescheidenen Büro im "Schusters Treppchen" am Beutelweg und lenkt im Auftrag der Wohnungsgenossenschaft Am Beutelweg die Geschicke des Viertels. Hier ist unglaublich viel passiert, seit Pädagogen von der Uni Trier vor 40 Jahren mit Gemeinwesenarbeit begannen. Man sieht es auch den Häusern an den verwinkelten Straßen an, dass hier mit viel Engagement der öffentlichen Hand, aber auch der Anwohner aus einem Vorstadt-Slum ein Stadtbezirk geworden ist, der sich sehen lassen kann. Das mächtige Bürgerhaus an der Ecke Ambrosius/Franz-Georg-Straße ist ein Hauptquartier der Entwicklung, und die renovierte Ambrosius-Grundschule nebenan, die von außen bereits in neuen Farben strahlt, könnte ein Dokument dafür werden, dass das Etikett "Problem-Stadtteil" nicht ewig an einem Viertel haften muss. Vorausgesetzt, die Eltern potenzieller Schüler schaffen es, ihre Vorurteile zu überwinden. So wie ihre Kids, die in der Jugendverkehrsschule entspannt durcheinander radeln.
VIII.
Wer die extreme Verkehrsbelastung von Trier-Nord am eigenen Leib erfahren will, braucht nur den Versuch zu unternehmen, am Verteilerkreis vom äußeren Fußweg auf die innere Grünfläche zu kommen. Eine Viertelstunde sollte man für die zwölf Meter einkalkulieren. Unaufhaltsam pumpt dieses Verkehrs-Herz Autos in die und aus der Stadt, und von den zehn Adern landen neun in Trier-Nord. Drei Querverbindungen durchschneiden den Stadtteil zwischen Mosel und Eisenbahn, und jede quillt über. Die Franz-Georg Straße hat man verkehrsberuhigt, die Herzogenbuscher umgebaut, die Zurmaiener renoviert. "Hilft alles nichts", sagt die Ortsvorsteherin und verweist mit leicht resignativem Unterton darauf, dass die großen Entlastungsmaßnahmen seit Jahrzehnten auf sich warten lassen.
IX.
Ganz weit draußen, im Industriegebiet, versteckt hinter ein paar Behördenstandorten in alten Kasernen, liegt die Aufnahmeeinrichtung für Asylbegehrende, kurz AfA. Hierher verirrt sich höchstens mal ein irregeleiteter Besucher der benachbarten Arbeitsagentur. Kinder tollen auf einem Spielplatz mit neuem Equipment, Gruppen von Männern stehen diskutierend im Schatten einiger Bäume. Die Anlage sieht ganz proper aus, und wären da nicht die ärmliche Bekleidung, die vielen Überwachungskameras und die Landeswappen an jeder Tür, man könnte glatt auf ein gealtertes Ferienheim an der Ostsee tippen. Aber für die Menschen hier ist die AfA der Wartesaal zum großen Glück, ein winziger Zipfel vom Paradies, das gleich gegenüber im Nells Park beginnt. Nur die wenigsten werden es erreichen.

X.
Eine Art Paradies gibt es in Trier-Nord auch. Es heißt Maarviertel. Wer sich die Zeit für einen kleinen Rundgang nimmt, wird Erstaunliches entdecken: die winzigen Puppenhäuser in der Bachstraße etwa, wo manche Haustür bei 1,70 Meter Höhe endet. In dieser Ecke der Stadt ist die Zeit stehengeblieben, in jenen Tagen, als es noch Nachbarschaft gab, als hier Handwerker und Gemüsebauern über Generationen in ihren Elternhäusern lebten und arbeiteten. "Das Marais von Trier", schwärmt ein begeisterter Anwohner und zieht den mutigen Vergleich zum urtümlichsten Viertel in Paris. Alles atmet Tradition, wie der Möbelladen, der die Größe zweier Wohnzimmer hat. Oder das Antiquitätengeschäft, das selbst eine Antiquität ist. Der wiederbelebte Tante-Emma-Laden. Die Bäckerei mit den 56 Kaffeemühlen als Deko, bei der man - ich kann\'s bezeugen - eine Stunde nach Ladenschluss nur ans Fenster klopfen muss, um noch einen Tortenboden zu erwerben.
Das ganze Viertel: eine traumhafte Kulisse für den Dreh historischer Filme. Wäre das hier der Vorort einer amerikanischen Metropole, man hätte längst einen Parkplatz davor gebaut und würde täglich 100 Busladungen Touristen durchschleusen. "Ei Glück, datt datt net so ess", sagt Rosi, die Wirtin der generations- und milieu-übergreifenden Kultkneipe "Aom Ecken". Und Rosis Wort hat Gewicht in Trier-Nord.
Dieter Lintz

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