"Chancen hängen nicht nur vom Geld ab"

TRIER. Neue Armut, Unterschicht und soziales Prekariat – die Diskussion über die schwierige finanzielle Situation breiter Bevölkerungsgruppen reißt nicht ab. Die Sozialreform Hartz IV habe die Probleme dramatisch verschärft, ist oft zu hören. Stimmt das? Wie ist die Lage in der Region? Darüber sprach der TV mit Marita Wallrich, Leiterin der Trierer Arbeitsgemeinschaft (Arge) aus Sozial- und Arbeitsamt.

Was halten Sie von der Diskussion über die "neue Armut" und den Begriff "Unterschicht"? Wallrich: Das ist eine politische Diskussion. Ich als Geschäftsführerin einer Arbeitsgemeinschaft habe die Gesetze umzusetzen. Durch die Sozialreform sind zwei Systeme zusammengelegt worden, die Arbeitslosenhilfe und die Sozialhilfe. Damit ist eine Gruppe entstanden, um die wir uns jetzt kümmern. Unser Klientel zieht sich durch die gesamte Gesellschaft. Arbeitslos kann jeder werden, das ist kein Problem nur einer Unterschicht. Aber durch die Zusammenlegung von Arbeitslosenhilfe und Sozialhilfe leben heute deutlich mehr Menschen auf Sozialhilfeniveau, oder?Wallrich: Nicht jeder Betroffene steht nach der Sozialreform schlechter da. Es gab Menschen, die haben in der Tat mehr Arbeitslosenhilfe bezogen, als sie jetzt an Arbeitslosengeld II bekommen. Doch die Regelsätze der Sozialhilfe sind höher, als sie es vor 2005 waren. Dafür erhielten die Sozialhilfe-Empfänger damals allerdings zusätzlich einmalige Leistungen. Wie hoch ist denn derzeit der Regelsatz?Wallrich: Ein Ehepaar mit zwei Kleinkindern hat einen Anspruch von 1586,90 Euro, da ist die Miete mit drin. Der Bedarf ohne Miete beträgt 1036 Euro. Nochmal: Berechnungen, nach denen derzeit bis zu 56 Prozent mehr Menschen auf Sozialhilfeniveau leben als vor der Hartz-IV-Reform, sind falsch?Wallrich: Solche Zahlen kann ich nicht kommentieren. Wir unterscheiden uns in dieser Region deutlich von Großstädten wie Berlin. Fakt ist, dass wir in Trier einen deutlichen Trend sinkender Bedarfsgemeinschaften haben. Wir sind im Oktober erstmals wieder unter 4000 Bedarfsgemeinschaften gekommen. Unsere Integrationszahlen sind sehr gut, wir werden bis zum Jahresende voraussichtlich unser Ziel von 20 Prozent Integration in Arbeit erreichen. Das liegt daran, dass sich der Stellenmarkt positiv entwickelt hat, und daran, dass unsere Maßnahmen zur Aktivierung greifen. Was halten Sie von Forderungen nach einem zweiten Arbeitsmarkt? Wallrich: Wir haben einen bestimmten Personenkreis, der sehr betreuungsbedürftig ist. Da muss man überlegen, ob man ein Instrument schaffen kann, das diese Menschen einen Schritt weiter in Richtung Integration bringt. Ich könnte mir durchaus Maßnahmen vorstellen, die längerfristig angelegt sind als die so genannten Ein-Euro-Jobs, die in der Regel auf ein halbes Jahr begrenzt sind. Aber das darf keine Einbahnstraße werden, der Weg in den regulären Arbeitsmarkt muss offen sein. Viel diskutiert wird derzeit auch über die "Working Poor", also Menschen, die zwar arbeiten, aber von ihrem Verdienst kaum leben können. Gibt es dieses Problem auch bei uns?Wallrich: Wir haben Bedarfsgemeinschaften, die ergänzend Leistungen von uns bekommen. Das geht von Menschen mit nicht-versicherungspflichtigen Tätigkeiten über Teilzeit- bis Vollzeit-Kräfte. Auch Selbstständige sind dabei. Genaue Zahlen dazu können wir erst Mitte 2007 abrufen. Unter dem Strich: Halten Sie die derzeitige Diskussion um Armut - und damit einhergehende geringere Chancen besonders für Kinder und Jugendliche - berechtigt oder übertrieben? Wallrich: Unabhängig von Transferleistungen sind die Ausbildungschancen für Heranwachsende in einer Bedarfsgemeinschaft genauso wie für Gleichaltrige, die in einer anderen Familie leben. Das kommt auf die individuellen Voraussetzungen an. Hängen nicht gerade diese Voraussetzungen auch vom Einkommen der Familie ab - Stichworte: Computer- und Internetzugang, Nachhilfe-Unterricht?Wallrich: Chancengleichheit hat nicht nur einen materiellen Hintergrund. Es gibt auch andere Faktoren wie die familiäre und die soziale Situation. Man kann also mit dem Arbeitslosengeld II vernünftig leben?Wallrich: Die Höhe der Transfers hat die Politik bestimmt. Mit den Regelsätzen ist alles, was man zum täglichen Leben benötigt, abgedeckt. Das habe ich nicht anders zu werten. Ist es schwierig, den Spagat zu schaffen zwischen Gesetzen und Schicksalen, denen Sie gerecht werden wollen? Wallrich: Ich komme ja aus der Sozialhilfe und mache das seit 24 Jahren, mit solchen Situationen kann ich umgehen. Ich versuche, den Menschen Brücken zu bauen, Lösungsschritte zu erarbeiten. Aber die Gesamtsituation kann ich persönlich nicht verändern. Es gibt durchaus den ein oder anderen Fall, den ich mit nach Hause nehme. S Mit Marita Wallrich sprach TV-Redakteurin Inge Kreutz.

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