Das Fliedermädchen: Die Welt, aus einer Schneekugel heraus betrachtet

Mit ihrer Geschichte "Das Fliedermädchen" hat Inessa Werle beim Kurzgeschichten-Wettbewerb der Saarburger Rotarier einen Sonderpreis gewonnen ("Der Traum vom Ausbrechen", TV vom 18. Mai). "Ihr modernes Märchen entsprach nicht ganz unseren formalen Kriterien. Aber es ist so gut, dass wir es prämieren wollten", sagte Wettbewerbskoordinator Herbert Eversheim bei der Auszeichnung.

Im Wohnzimmer des alten Herrn Buchental, nun so alt war er nun auch noch nicht, doch er pflegte es stets zu sagen, stand in einem alten Eichenholzschrank eine Schneekugel. Von beiden Seiten umgaben sie in Leder gebundene Bücher, alt und vergilbt, denn sie standen schon lange dort. Die Glaskugel passte nicht wirklich in den Raum hinein, zu den ganzen Schriftstücken, der langweiligen rauen Tapete und den altertümlichen Teppichen, die schon lange abgetreten waren. Doch umstellen oder gar in Kisten packen wollte Herr Buchental sein einziges Schmuckstück nicht.
Kam man in den Raum hinein, so fiel der erste flüchtige Blick auf die Kugel mit ihrem Glaskörper und dem Kunstschnee aus Lametta. Doch für Herrn Buchental war die Kugel mit all ihren Kratzern längst zur Gewohnheit geworden und er schenkte ihr keine wirkliche Beachtung mehr, so auch nicht dem kleinen Mädchen, dass sich traurig die kleine Nase an der gebogenen Scheibe plattdrückte. Das Kugelmädchen trug ein fliederfarbenes Kleid, fliederfarbene Pantoffeln und es hatte fliederfarbene Haare. Ein gelbes Haus mit grünem Garten und einer Wiese mit einer farbenfrohen Blumenfülle schmückte ihr flüssiges Zuhause. Eigentliche eine kleine Idylle, doch die fruchtige Landschaft widersprach dem glitzernden Schnee. So lebte das Mädchen dahin in seinem gläsernen Gefängnis. Es war ganz allein bis auf sein Häuschen und die ach-so-wunderbare Landschaft.
Eines Tages war es an der Zeit, das Regal vom flächendeckenden Staub zu befreien und so auch die Kugel, die Herr Buchental auf das Tischchen vor dem Sofa stellte. Durch das Gerüttel wurde das Mädchen aus dem sanften Schlaf geweckt und fand sich auf dem Tischchen wieder. Mit großen, kugelrunden Augen betrachtete es die neue Umgebung, einen Federhalter, einen Füller und vergilbte Papiere. Nach einiger Zeit setzte sich der alte Mann, wohlverdient nach der anstrengenden Putzerei, auf den Sessel und schlug die Zeitung auf. Nachdem er alles, was ihm wichtig erschien, gelesen hatte, schlug er die Zeitung wieder zu und wollte zur Tür hinausgehen. Da fiel sein Blick auf die Schneekugel und er hob sie auf, um sie wieder an ihren Platz zu stellen, doch da entwich dem Fliedermädchen ein kläglicher Laut. Herr Buchental mit seinen nicht mehr allzu guten Ohren hielt das Geräusch zunächst für eine Einbildung, doch als ein weiterer verzweifelter Laut erklang, bemerkte er das kleine Mädchen in der Glaskugel. "Bitte nicht, guter Mann, stellen Sie mich nicht in dieses schreckliche Regal zurück", schluchzte es. "Nanu", entfuhr es dem Mann, der keinerlei Schrecklichkeit an seinem Regal finden konnte. "Bitte guter Herr, ich kann nicht ewig dasselbe sehen, immer nur dasselbe ...", Mmmh ... dieser Gedanke ist mir tatsächlich noch nie gekommen," gab Herr Buchental zu. "Würde es dem kleinen Fräulein gefallen, wenn ich es auf das Fensterbrett stellen würde, neben die Orchidee und das Veilchen?" "Du meine Güte, das sind ja echte Blumen! Oh ja, es wäre himmlisch, den Platz dorthin zu wechseln", schwärmte das Kugelmädchen mit seinem zarten, traurigen Stimmchen. "Doch es ändert nichts an meinem Leben. Eingesperrt in einer Glaskugel, in der das Leben nur zu sprießen scheint, doch hier ist nichts echt, nicht einmal der Schnee ... Eine bunte Scheinwelt, aus der ich gerne flüchten würde ..." Herr Buchental hatte Mitleid mit dem Mädchen, so dass er es zu einem befreundeten Zauberer brachte. Dieser sagte, er könne das Mädchen noch nicht für immer aus seiner Kugel befreien, denn dazu sei es noch zu unerfahren und zart, doch für einen Tag reiche seine Zauberkraft. So wurde ein langer komplizierter Zauberspruch gesprochen und das Fliedermädchen war frei. Bevor es zusammen mit Herrn Buchental die große weite Welt erkundete, sagte der weise alte Zauberer noch: "Ich muss dich warnen, mein Mädchen, die Erkundung der großen weiten Welt wird kein Spaziergang. Du wirst schlimme Dinge sehen, die du nie wieder vergessen kannst und auch die schönen Sachen werden sie nicht ungeschehen machen." Doch in seiner Euphorie über die neugewonnene, kurzweilige Freiheit hörte das Fliedermädchen gar nicht mehr wirklich zu.
Herr Buchental zeigte ihm die ganze Welt mit all ihren Herrlichkeiten. Beim Anblick einer liebenden Familie wurde dem Fliedermädchen ganz warm ums Herz. "Das Gefühl kenne ich", sagte es, "mit diesem Gefühl pflege ich meinen Garten mit all seinen Sträuchern und Blumen." Auch die schöne Natur entlockte dem Mädchen oft einen entzückenden Laut. "Alles ist so farbenfroh und freundlich", sagte es und achtete darauf, keines der Blümchen platt zu trampeln. Doch plötzlich änderte sich die Landschaft, ein Kriegsfeld offenbarte sich den Reisenden. Sie sahen Menschen, die sich gegenseitig beschossen. Schreie übertönten den lauten Knall der Schüsse. Das Fliedermädchen war entsetzt. "Was machen diese Leute?", fragte es. "Sie kämpfen um die Freiheit", erklärte Herr Buchental. "Was nützt es ihnen, den anderen wehzutun, wenn ihnen selbst auch wehgetan wird und am Ende alle unglücklich sind?", fragte das Mädchen. Herr Buchental seufzte. "Ach weißt du, die Leute lassen sich die schlimmsten Dinge einfallen, um andere zu quälen." Das Fliedermädchen dachte wehmütig an seine Kugel. "So etwas habe ich mir nie träumen lassen," flüsterte es erschrocken. Herr Buchental zog es schnell weiter. Doch auch das nächste Bild machte das Mädchen mit dem fliederfarbenen Haar nicht glücklich. Es zeigte einen Jungen, der auf einer Bank saß und traurig vor sich hinstarrte. Das Fliedermädchen wollte zu ihm gehen, doch Herr Buchental hielt es am Arm fest. "Ich muss ihn wieder glücklich machen", gab das Mädchen als Erklärung. "Das kannst du leider nicht", flüsterte Herr Buchental. "Warum nicht?" "Weil ... nun ja ... die Glaskugel des Jungen auf einen Schlag zerstört wurde, als er einen geliebten Menschen verlor ..." Das Mädchen fing an zu weinen, denn ihm tat der Junge sehr leid. Es hatte von diesem Leiden gehört, doch es waren nur Worte gewesen, Worte, die das Glas der Kugel nicht durchdrungen hatten.
Das Ende des Tages war gekommen und das Fliedermädchen war sehr müde. Es kroch, ohne lange zu zögern, in seine bunte Kugel zurück und das Glas schloss sich, auch wenn ein langer Kratzer zurückblieb. Es legte sich in den Lametta-Schnee, der ihr jetzt viel lieber war als der Schnee draußen, denn der hatte kalte brennende Flecken auf ihrer Haut verursacht. Irgendwann wird wohl auch die Kugel des Fliedermädchens endgültig zu Bruch gehen und das Fliedermädchen in die große weite Welt entlassen. Auch wenn es nun schon einmal draußen war, ist es wohl nicht vorbereitet auf das, was kommen mag, denn eine Schneekugel schirmt durch seinen kindlichen Zauber eine jede junge Seele vor den Gefahren der großen Welt ab ...Extra

 Die Autorin Inessa Werle. TV-Foto: Alexander Schumitz, Symbolbild: istock

Die Autorin Inessa Werle. TV-Foto: Alexander Schumitz, Symbolbild: istock

Foto: Alexander Schumitz (itz) ("TV-Upload Schumitz"

Insgesamt vier Kurzgeschichten wurden beim Kurzgeschichten-Wettbewerb der Saarburger Rotarier ausgezeichnet (TV-Artikel "Der Traum vom Ausbrechen", erschienen am 18. Mai). Die ausgezeichneten Kurzgeschichten "Eine andere Welt" (erster Platz, Geschichte von Gina Gressges, Elftklässlerin am Gymnasium Konz), "Requiem" (zweiter Platz, Geschichte von Michelle Zender, Elftklässlerin am Gymnasium Saarburg) und "Thomas" (dritter Platz, Geschichte von Steffen Gallus, Elftklässler am Gymnasium Konz) wurden am 18.05. bereits im TV veröffentlicht. Heute komplettiert "Das Fliedermädchen", geschrieben von Inessa Werle, das Kurzgeschichten-Quartett. Eine sechsköpfige Jury hat die vier Geschichten seit März aus 64 eingereichten Kurzgeschichten, die von Zehnt- und Elftklässlern der beiden Gymnasien in Konz und Saarburg stammen, ausgewählt. red

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